Die Wirklichkeit hinter der Realität

Rottaler Anzeiger vom Montag, 03. Mai 2010

Die Wirklichkeit hinter der Realität
Phantastische und visionäre Kunst aus drei Jahrhunderten im Gotischen Kasten
Von Josef Nöhmaier.

Eggenfelden. Nach der erfolgreichen Ausstellung des Künstlerkreises »Dalis Erben« Ende 2008 ist es der Stadt erneut gelungen, hochkarätige Werke aus dem Bereich der phantastischen und visionären Kunst im Gotischen Kasten der Schlossökonomie Gern zu präsentieren. Der gebürtige Eggenfeldener Fritz Hörauf, zugleich Vorstandsmitglied der Künstlergruppe »Labyrinthe«, hat zusammen mit seiner Lebensgefährtin Tamara Ralis die aktuelle Bilderschau organisiert. Idee dieser Ausstellung ist es, so etwas wie eine Konstante des Visionären und Phantastischen in der europäischen Kunstgeschichte sichtbar zu machen.
Akustisch auf den Kunstgenuss eingestimmt wurden die Besucher der Vernissage durch eine Trommeleinlage des deutschen Malers und Künstlers Alfred Bast. Bürgermeister Werner Schießl versicherte in seiner Begrüßung, dass die Stadt bereit sei, trotz chronisch klammer Kassenlage Kunst und Kultur weiterhin finanziell zu fördern.
Roman Hocke, Vorsitzender von »Labyrinthe« und Verwalter der Edgar und Michael-Ende-Stiftung, ging bei der Einführung detailliert auf das Wesen der phantastischen Kunst ein. Der phantastische Künstler forsche nach der Wirklichkeit hinter der Realität. Er sei ein »Homo ludens«, ein unendlicher Spieler, der den Rahmen gesellschaftlicher Konventionen sprenge, indem er das herrschende Gesellschaftsbild in Frage stelle.

Breites Spektrum

Trotz kunstgeschichtlicher Gemeinsamkeiten wird bei der Ausstellung schnell klar, dass sich die Künstlerpersönlichkeiten in keine gängigen Schubladen einordnen lassen. Es wird ein Raum aufgespannt, der vom 18. Jahrhundert mit Giovanni und Francesco Piranesi über die Klassiker wie Edgar Ende und Mac Zimmermann bis zu acht zeitgenössischen Künstlern mit ihren surrealen Weltbildern bis in die Gegenwart reicht.
Viel beachtete Werke aus der Epoche der nicht mehr lebenden Künstler sind z. B. die meisterhafte Radierung von Giovanni Battista Piranesi »Der Senat und die Bevölkerung von Rom« oder die surrealen Ölgemälde von Edgar Ende »Das alte Pferd« von 1933 sowie »Der geflügelte Berg« von 1947. All diese klassischen »alten« Werke hat Kurator Fritz Hörauf aus privaten Sammlungen zusammengetragen.
Von den zeitgenössischen Werken stechen sofort zwei großformatige Tafeln von Alfred Bast ins Auge, betitelt mit »Im Flutlicht ertranken die Engel«, angefertigt mit Asche, Acryl, Öl, über Zeitungscollagen auf die Leinwand geklebt. Das Zentrum des Bildes stellt ein Kind dar, das die Erde in Form eines zu schützenden Keimes wie einen Ball trägt.
Unzählige Geistwesen bevölkern die in Ei-Tempera mit Harzöl-Lasur angefertigten Bilder von Wolfgang Maria Ohlhäuser aus Weinheim. In seinem Werk »In den Höhlen der Drachenbucht«, die in Nordvietnam tatsächlich existiert, ist seine künstlerische Intention deutlich spürbar. Ohlhäuser propagiert die »beweste« Natur, sie ist für ihn keinesfalls tote Materie.
Auch in den Werken der Dachauer Künstlerin Claudia Knüppel wimmelt es von Naturgeistern, die dem Betrachter geheimnisvoll oder auch frech aus dem schillernden Reich der Phantasie zuwinken.
Vielen Besuchern dürften die von einer geheimnisvollen Aura umgebenen Ölbilder des in München lebenden Malers, Bildhauers und Architekten Fritz Hörauf schon bekannt sein, wie z. B. »Die Seherin« aus dem Jahr 1991. Seine Bilder verfügen teilweise über eine fast greifbare Dreidimensionalität und schwindelnde Tiefe. In Gern zeigt Hörauf auch interessante Bronzegusse, die er in Ton vormodelliert.
In München lebt und arbeitet auch Tamara Ralis, die sich nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Dichterin, Schriftstellerin und Schauspielerin einen Namen gemacht hat. Mit ihren weißlich gehaltenen Objekt-Skulpturen wie »Ankunft der Ellipse« präsentiert sie eine eigenwillige Variante im Rahmen der visionären Kunst.

Kunst mit klaren Strukturen

Zu den Pionieren der Phantastischen Kunst zählt auch der Maler, Grafiker und Schriftsteller Otfried Culmann, der in Billigheim bei Landau in der Südpfalz lebt und arbeitet. Das Ölbild »Gelbe Villa und Autometamorphose« ist ein typisches Beispiel für seine klar strukturierte Kunst: Eine nackte Frau räkelt sich vor einem fliederfarbenen Auto, im Hintergrund prunkt eine zitronengelbe, kubische Villa; Anklänge an den Stil des Surrealisten Salvador Dali sind nicht zu übersehen. Abgeschlossen wird die Kunstschau von den Werken der Wienerin Cornelia Simon-Bach (verschiedene Figurationen in Mischtechnik) und des Schweizers Ernst Steiner, der seit 1955 ebenfalls in Wien lebt. Steiner verkörpert den Typus des Symbolisten und ist einer altmeisterlichen Maltechnik wie Tempera und Gouache verpflichtet.