Prof. Arik Brauer: Kunst – Restkunst – Unkunst

Auszug

Mit freundlicher Genehmigung zur Veröffentlichung von Prof. Arik Brauer – Wien

I.

In der Ecke lehnt ein alter Besen an einem Brett, in der Mitte liegt ein ausgedienter Autoreifen, an der Wand hängt ein in Gips erstarrter Fetzen. Wir befinden uns nicht in einer Rumpelkammer, sondern in einem Museum für moderne Kunst. Nachdenklich tritt man wieder ins Freie. Da fällt einem auf, daß jeder Gegenstand, auf den das Auge fallt, ohne weiteres in einem Museum ausgestellt werden könnte, ohne aus dem Rahmen zu fallen: die Einbahnstraßentafel, ein weggeworfener Zigarettenstummel, ein Stück Straßenasphalt, das Kanalgitter, ein Stück Mauerwerk, alles ein potentielles Kunstwerk.

Was hat das zu bedeuten? Ist man etwa zu ungebildet, zu dumm, um zu begreifen, wo da der Sinn liegt? Oder ist man schon zu alt, um die geistigen Umwälzungen unserer Zeit aufnehmen zu können? Sind unsere Augen vernebelt von einem veralteten Kunstbegriff? Oder aber sind die Initiatoren und Künstler, die jenes Museum geschaffen haben, von allen guten Geistern verlassen?

Bildende Kunst, was ist das? Das Unvermögen der Sprache, Begriffe mit wenigen Worten abzustecken, wurde oft beklagt. Schon beim Definieren eines so einfachen Begriffes wie etwa dem Wort Tisch wird es eine Frage von kultureller Zugehörigkeit und persönlicher Einstellung sein, wo jemand die Grenzen dieses Begriffes zieht. Was ist eine als Tisch verwendete Kiste? Was ein Schemel, wenn ich, auf dem Boden hockend, mein Heft auf ihn lege? Was ein Baumstumpf beim Picknick? Die Grenzen der Begriffe erweisen sich als verlaufend, als plastisch, als auslegbar. Und doch gibt es Grenzen. Der Verwendungszweck eines Tisches ist ziemlich genau bestimmt, und wenn ein Gegenstand diesen Zwecken nicht entspricht — ein Gebrauchsgegenstand zur Ablage und zum Arbeiten mit in der Regel vier Beinen und einer Deckplatte — dann wird wohl jedermann finden, daß dies kein Tisch sein kann.

Um wieviel komplizierter ist nun die Definition des Begriffes Bildende Kunst, wo doch schon die Verwendungszwecke derselben so sehr umstritten sind. Eines der geläufigen Schlagworte unserer Tage ist „die Erweiterung des Kunstbegriffes". Erweitern kann man indes aber nur und soll man überhaupt, wenn ein Begriff vorhanden ist, d. h. etwas irgendwie, und irgendwo Begrenztes. Gibt es keine Grenzen, dann kann alles Kunst sein, dann kann sinnvollerweise dieser Begriff nicht mehr existieren. In diesem Fall brauchten wir dann auch keine Künstler mehr, keine Museen, keine Kunstexperten und vor allen Dingen keine Diskussion um die Erweiterung des Kunstbegriffes.

Ich hingegen will und werde davon ausgehen, dass Einigkeit darüber herrscht, daß bildende Kunst einen Begriff darstellt und daher wie jeder Begriff seine Grenzen und charakteristischen Merkmale besitzt. Wie kann man diese Grenzen nun definieren? Wie seine charakteristischen Eigenschaften beschreiben?

Die Malerei ist keine Erfindung des Menschen, sondern ein Bestandteil der Natur. Schmetterlinge haben große Augen auf die Flügel „gemalt" bekommen, um Feinde zu erschrecken. Fische und Insekten sind oft mit den großartigsten Dekorationen ausgestattet, um Weibchen oder Männchen anzulocken. Dabei wird sogar die erhöhte Gefahr des Gesehen- und Gefressenwerdens in Kauf genommen, so groß ist die Anziehungskraft, die Farben und Formen auf Tier und Mensch ausüben; so groß ist die Liebe zur Kunst. Viele Tiere tragen auch Zeichnungen und Farbverläufe auf Fell, Federn oder Schuppen, um in ihrer Umgebung zu verschwinden. Es scheint, daß die „Bemalungen" der Wesen oft beide Aufgaben zu erfüllen haben, Mimikry1 und anziehende Schönheit. Die Streifen des Zebras sollen die dunklen Schatten des Steppengrases vortäuschen. Dazu müßten sie aber nicht unbedingt harmonisch schwungvoll den Zebraleib umschmeicheln. Im Gegenteil. Das Tier würde noch schwerer auszumachen sein, wenn schwarze Spitzen und Flecken wirr durcheinanderlaufend die Körperform optisch zerstören würde. Aber das Zebra soll auch schön sein. Die Zebrafrau hat scheinbar harmonische, den Leib umschmeichelnde Streifen gern. Auch die Löwen sollen ja die Zebras schön finden und sie lieben. Alle Wesen leben in einer Welt, die sie als lebenswert, als angenehm anzuschauen, als schön empfinden. Ein wichtiger Bestandteil des Lebenswillens ist offenbar die Tatsache, daß die Wesen die Welt und vor allem ihre Mitwesen, d. h. Verwandte, Feinde und Futter als schön erleben. Der Mensch muß in diesem Verein als verhältnismäßig schmucklos, als unscheinbar ausgestattet bezeichnet werden. Doch was tut er? Er schmückt sich mit fremden Federn, fremden Farben. Und ein Wesen, das sich selbst bemalt, um der Schönheit willen, muß auch seine Geräte und Waffen, die ja seine verlängerten Gliedmaßen darstellen, bemalen. Irgendwann schmückte und bemalte dieses Wesen dann auch seinen Wohnraum, seine Höhle. Beim Selbstschmücken, Selbstbemalen bleibt natürlich das wichtigste der Mensch. Die Farben und Formen dienen hauptsächlich dazu, den Menschen zu schmücken, d. h. sein Wesen in Schönheit zu unterstreichen. Das gleiche gilt für das Bemalen von Gebrauchsgegenständen. Wichtig ist der Gegenstand. Um seine Wichtigkeit zu unterstreichen, wird er gefärbt, geschmückt. Anders verhält es sich mit dem Bemalen einer Höhlenwand. Gewiß besteht auch hier eine Absicht, den Raum attraktiv, schön zu gestalten. Aber die Größe und die formale Neutralität einer Wand ermöglichen und verlangen eine kompliziertere Gestaltung. Die Bemalung wird zur Malerei, d. h. nicht mehr der durch Bemalung hervorgehobene Gegenstand ist wichtig, sondern die Malerei als solche. Der Gegenstand, die Wand, wird zum Hintergrund, der Malerei. Wie sieht nun diese kompliziertere Gestaltung aus? Der Mensch hat die bemerkenswerte sinnliche Fähigkeit, zweidimensionale Bilder kraft seiner Phantasie in dreidimensionale Körper zu verwandeln. Ich sehe einen Fleck am Kieselstein, und er erinnert mich an ein Gesicht. Ich erblicke einen Riß im eingetrockneten Lehmboden, und er wird mir zu einem Baum. Dabei sind wir imstande, die krassen Unterschiede in Format und Material  in Kauf zu nehmen. Es würde ein Hund beim Betrachten eines Posters, auf dem im perfekten Sechsfarbendruck ein anderer Hund abgebildet ist, nicht auf die Idee kommen, dieses nach Druckfarbe riechende flache Blatt mit dem Phänomen Hund in Verbindung zu bringen. Nur der Mensch ist imstande, etwa beim Betrachten eines zwei Quadratzentimeter großen rosa Farbfleckes, der die Silhouette eines Popos andeutet, erregt zu werden. Nur ein Menschenkind kann in einem mit schwarzem Bleistift gezogenen Kreis, darin zwei Punkte und zwei Striche, ein Gesicht erkennen und sogar noch Geschlecht, Alter und Gemütsverfassung der dargestellten Person aus diesem Minimalkürzel herauslesen.

Mit dieser phänomenalen Begabung ausgerüstet genügt es dem Menschen nicht, seine Wand mit Signalfarben, Reizstreifen oder Mimikryflecken zu bemalen, so wie er sie in der Natur vor Augen hat. Er wird etwas viel Aufregenderes tun: Er stellt dar, er täuscht vor; er überträgt dreidimensionale Körper in zweidimensionale Flächen. Damit ist er zudem noch imstande, in Bildern seine Probleme zu schildern und er hilft sich, dieselben bildlich zu bewältigen. Er malt die Büffeljagd und besiegt damit seine Angst. Damit ist er auch in die Lage versetzt, jene Gebilde zu malen, die er zu kennen glaubt, ohne sie in der Natur zu sehen. Der Mensch malt sich sogar seine Götter. Damit liegen die beiden wichtigsten Verwendungszwecke der Malerei von Anfang an fest: erstens die Dekoration, Bemalung im Sinne von auffälliger , wichtiger, schöner machen, und zweitens die figurative Darstellung, die Malerei alleine geistige Hilfe zur Bewältigung des Lebens. Schon aus diesen beiden Verwendungszwecken ergeben sich einige charakteristische Eigenschatten, die der bildenden Kunst zukommen.

Malerei muß schön sein im Sinne der als schön empfundenen bunten Fische, Vögel und Pflanzen. Schön auch im Sinne eines Regenbogens, der als dramatische Zierde des Himmels und als Zeichen des Friedens vom Menschen schon immer als schön begriffen wurde. Die Freude am Schönen bedeutet keine Modeerscheinung, sondern ein Teil des menschlichen Wesens mit tiefen Wurzeln und konkreten Ursachen. Farben erinnern an Früchte und Blumen, an Sommer und Leben, an lauter angenehme Dinge. Plastisch wirkende Rundungen, rhythmische Wiederholungen, gespannte Bögen, Überschneidungen erinnern an erotische Formen und Vorgänge. Spitzen, Zacken, unerwartete Kompositionen, starke Farbkontraste gemahnen an aufregende, die Langeweile überwindende Ereignisse. Angenehm, ist also schön. Was dem Körper und dem Geist angenehm ist, ist dem Auge schön. Im Bereich des Optischen meint das Positive sinnvollerweise das Schöne und nicht das Gute.

Es gibt aber auch eine schreckliche Schönheit. Der Mensch genießt seine eigene Angst, wenn er sich in Sicherheit weiß. Ich sitze in einem Kino und erfreue mich an einem Gruselfilm. Tatsächlich genieße ich wohl eher die Sicherheit, die mir durch die vorgeführte Angst stärker in das Bewußtsein kommt. Dieser Effekt zeigt sich auch in der bildenden Kunst. Das beginnt im abstrakten Bereich, bei den eben erwähnten Spitzen und Zacken und spielt im Literarisch-Figurativen oft eine Hauptrolle. Dabei spielt der Inhalt, die Aussage, das Thema oft auf den Schrecken, die Angst an. Die Schönheit ist kein bloßer Bestandteil der bildenden Kunst, sie ist die bildende Kunst.

Die Schönheit der bildenden Kunst muß vom Menschen gemacht sein. Wenn es in der Natur, wie schon besprochen, Erscheinungen gibt, die von uns als malerisch empfunden werden, so kann die Leistung des Künstlers nicht darin allein bestehen, diese Erscheinungen hervorzuheben und auszustellen. Der Künstler muß das Malerische vielmehr selber schaffen. Denn das Vorhandene ist ja bereits geschaffen. Was die Kunst auszeichnet und für den Menschen so interessant gestaltet, das ist die in ihr manifestierte menschliche Phantasie. Es ist daher irrelevant, etwa einen schönen Stein oder das Abendrot oder irgendein anderes Naturwunder einem menschlichen Kunstwerk wertend gegenüberzustellen. Das Finden, d. h. das Auswählen eines schönen Steines stellt eine Tätigkeit dar, die vielleicht entfernt mit Kunst zu tun haben mag. Der Stein als solcher wird durch diese Tätigkeit aber sicher nicht zum Kunstwerk. Nicht er ist das Resultat künstlerischer Bestrebungen, sondern seine Verlagerung von einem Bach in eine Vitrine.

Das gleiche gilt für die Produkte menschlicher Arbeit, die ohne künstlerische Absichten erzeugt wurden. Kunst kann nicht gefunden, sondern nur gemacht werden. Um das Malerische zu schaffen, braucht es eine spezifische Begabung. Denn es ist schwierig, Farben und Formen auf einer Fläche so zu verteilen, daß sie auf den Beschauer einen Reiz ausüben. Es ist schwierig, Figuren zu malen, die einen dekorativen Reiz besitzen, die Fläche harmonisch und doch aufregend bedecken, die Wirklichkeit darstellen, zugleich verzerren und kraft dieser Spannung imstande sind, Inhalte und Aussagen eindrucksvoll zu vermitteln.

Die bildnerische Begabung ist bei allen Völkern und zu allen Zeiten vorhanden und zweifellos ein Grundzug des menschlichen Wesens. Wenn jedoch alle Menschen dieses Talent in größerem oder geringerem Ausmaß besitzen, dann ist dieses Durchschnittstalent nicht imstande auszustrahlen. Es bleibt in einem solchen Fall für die Öffentlichkeit im wesentlichen uninteressant, etwa so wie das bloße Gehen noch nicht als Tanz gewertet und genossen wird. Um bedeutsame Kunstwerke schaffen zu können, muß eine bildnerische Begabung in einem überdurchschnittlichen Ausmaß vorhanden sein, was bei bestimmten Personen der der Fall ist. Nur solche Menschen können Kunstwerke schaffen. Es bleibt die Bewunderung dieses ganz besonderen Könnens, die den Genuß beim Betrachten eines Kunstwerkes ausmacht. Eine Tätigkeit, bei der diese überdurchschnittliche Begabung nicht zum Ausdruck gelangen kann, wird kein Kunstwerk darstellen. Das oft gehörte Argument beim Betrachten abstrakt-moderner Kunst vieler Leute: „Das kann mein kleiner Maxi auch" ist richtig und in genau dieser Hinsicht auch unwiderlegbar.

Ein gutes Bild ist immer dergestalt komponiert, daß eine mit Absicht ins Wanken gebrachte Balance immer wieder überraschend aufgefangen wird. Man kann das mit einer Melodie vergleichen. Sie beginnt im Grundakkord, wandert über Septakkorde, Unterdominante, Minuenda usw. von Tonart zu Tonart, wird auch vielleicht von Dissonanzen gerüttelt und findet doch immer aufatmend ihren Grundakkord. Die Rettung des gefährdeten Gleichgewichts ist dabei das Vergnügen. Die „Mona Lisa" ist eigentlich ein rundliches Dreieck in einem viereckigen Rahmen. Dreieck im Viereck ergibt zwei leere Löcher, die optische Ruhe ist gestört. Doch rechts ein Berg, links ein Berg, und die Harmonie ist wieder hergestellt. Das Rezept ist so einfach, daß paradoxerweise und doch ästhetisch einsichtig nur wenige Menschen imstande sind, es richtig anzuwenden. Es gibt etliche solcher Grundkompositionen in der Kunst, die alle nahezu unbegrenzt variabel sich erweisen.

Diese Wahrheiten müssen von jedem Künstler immer wieder aufs Neue entdeckt, d. h. erlebt werden. Es ist nicht möglich, diese Rezepte bloß zu übernehmen, da sie ohne eigenes Erlebnis kein Resultat erbringen. Die bildende Kunst ist eine Stunde der Wahrheit. Noch viel geheimnisvoller als die Gesetze der Komposition ist die Wirkung der Farben. Zwischen der Zeichnung und der Farbigkeit besteht ein äußerst komplexes Verhältnis. Die Zeichnung kann Farbe in Felder aufteilen und dadurch zu verstärkter Wirkung bringen. Zugleich aber bremst sie durch diese Begrenzung den freien Fluß, besonders bei figurativer Malerei, wo die Farbe der Zeichnung untergeordnet ist. Die Farbe wiederum steigert erst den Ausdruck der Zeichnung, indem sie die Formen füllt, verwischt, aber zugleich die Eindeutigkeit von hell und dunkel unterstreicht. Eine Malerei wird selten so plastisch wirken wie eine schattierte, einfarbige Zeichnung. Die Spannung zwischen der Zeichnung und der Farbe, die wie eine gute Ehe aus belebendem Kampfund liebevoller Hilfe besteht, muß vom Künstler jeweils ausbalanciert werden. Die Zeichnung bedeutet die Rennbahn für die Rasanz der Farbe. Diese wieder muß sich zur Einfarbigkeit bescheiden, wenn es darum geht, einen kompliziert geformten Körper darzustellen. Je komplizierter etwa ein Faltenwurf, umso einfacher muß das Stoffmuster ausfallen. Farbe wirkt, flächig aufgetragen,, dekorativ, wenn das Nebeneinander verschiedener Farbflächen einen vibrierenden Akkord ergibt. Die Wirkung geht dann von dem Spannungsverhältnis zwischen den Farben und dem Verhältnis der Farbe zur Zeichnung aus. Bei einer flächigen Malerei wirken nicht die einzelnen Felder, sondern das Bild als ganzes. Es ist sicher charakteristisch, daß dabei oft der Rahmen miteinbezogen wird, wie bei mancher Ikonenmalerei, der arabischen Buchmalerei und der Malerei der spanischen Gotik. Bei einer plastisch wirkenden Malerei ergibt sich die spannungsreiche Möglichkeit von Farbsteigerung und Farbverlauf. Ein grünes Blatt wird nach oben zu gelblich und orange und endet mit einer roten Spitze. Die Farbe stellt ein Blatt dar, hat aber darüber hinaus den Eigenwert und Eigenausdruck eines Farbverlaufes. Die Höhen der Falten eines roten Mantels treten heller hervor und wirken dadurch roter. Die Farbe zeichnet und besitzt zugleich den Eigenwert des Aufleuchtens. Diese hypnotische Doppelwirkung der Farbe kommt in der Renaissancemalerei voll zum Ausdruck. Die plastisch wirkende Farbe bildet naturgemäß immer die Grundlage für die figurative Malerei, weil die Illusion eines Körpers, sei dieser auch noch so absurd und verzerrt, immer als Figur gesehen wird. Farbverläufe zeichnen aber auch die gegenstandslosen Darstellungen aus. Hell und dunkel werden dann nicht als Licht und Schatten empfunden, sondern als Farbabstufungen. Das Handwerk gehört zur bildenden Kunst wie die Räder zum Wagen. Es ist unrichtig zu sagen, dieser oder jener Maler besitze zwar eine gute Technik, aber keine Genieblitze. Ohne diese Blitze gibt es in der bildenden Kunst keine gute Technik. Unter der Technik verstehe ich in diesem Zusammenhang natürlich nicht bloß die Fähigkeit, einen guten Malgrund aufzutragen oder einen Bleistift zu spitzen. Das Handwerk in der bildenden Kunst ist die Art, wie der Pinsel geführt wird, welche Konsistenz man der Farbe gibt, wie dieselbe aufgetragen wird. All das ist im Sinne der bildenden Kunst nur durchzuführen, wenn jede Bewegung von einer klaren Form- und Farbvorstellung inspiriert ist, wenn jeder dieser Arbeitsvorgänge gewissermaßen auf einem Genieblitz reitet. Die Spuren der menschlichen Hand sind in sich ausdrucksstark und ein Charakteristikum der bildenden Kunst.

Aus der Möglichkeit, Dinge zu malen, ergibt sich das Verlangen, die Natur möglichst genau abzumalen. Diese Tendenz zum Naturalismus stellt einen selbstverständlichen Bestandteil der bildenden Kunst dar, der aber meistens von anderen, den Menschen wichtiger scheinenden Aspekten überlagert ist. Den Malern der Gotik etwa war der erzählende und belehrende Charakter ihrer Darstellungen wichtiger als die Tatsache einer optischen Perspektive. Einen ausschließlichen, einen totalen Naturalismus gab es nicht bis zur Erfindung der Photografie und konnte es auch nicht geben. Der Mensch ist nicht imstande, etwa einen Baum mit sämtlichen Blättern zu malen. Aus diesem „Unvermögen" heraus ergibt sich aber eine wichtige Grundlage für die figurative Malerei. Was tut der Künstler, um diese „Schwäche" zu überwinden? Er konzentriert sich auf einen bestimmten Aspekt des Phänomens Baum. Der Maler Rousseau zum Beispiel reduziert die Zahl der Blätter auf einige wenige. Diese zeigen dann umso eindringlicher, wie das Wachstum zu beiden Seiten des Zweiges rhythmisch sich anzeigt. Diese Linien zeigen vereinfacht und dadurch dramatisch, wie die Architektur eines Baumes aussieht. Rousseau weiß um das Wesen eines Baumes. Er ist im Besitz einer Wahrheit und kann sie uns vermitteln, im Kunstwerk. Van Gogh andererseits begreift den Baum als eine Wolke aus wirbelndem Grün. Brueghel holt den Baum aus der Struktur seines Pinselstriches heraus. Er weiß um die Richtung, in die die Zweige wachsen. Er weiß um die Schatten, die sie werfen. Und wir können ihm folgen. Lucas C ranach schließlich schreibt die Glanzlichter wie ein Kürzel hin. Der Baum wird ihm zum Ornament.

Jeder Künstler füllt die Lücke, die zwischen Natur und Malerei besteht, mit seiner Phantasie, mit seinem persönlichen Zugang zu den Erscheinungen, den Dingen, der Natur, den Menschen. Er füllt sie mit jenem Körnchen Wahrheit, welches zu besitzen er das Glück hat. Die Füllung dieser Lücke ist die Kunst. Kunst insbesondere in der Form und Gestalt der figurativen Malerei.

Die bildende Kunst hat eine eminent erzieherische Aufgabe zu erfüllen, und sie wurde bislang dieser Aufgabe auch immer gerecht. Allerdings geht dies nicht so einfach plakativ vor sich, wie mancher Vertreter der sogenannten Politkunst sich das heute wünschen mag. Die Wirkung der bildenden Kunst geht nämlich nicht so sehr von einem Thema des Bildes aus, als vielmehr von der künstlerischen Gestaltung. Man wird eben nicht zu einem Kommunisten beim Betrachten von Werken des sogenannten sozialistischen Realismus. Zur Erziehung und Beeinflussung des Intellekts eignet sich zweifellos besser das gesprochene, geschriebene und gesungene Wort. Trotz dieser relativen Wirkungsschwäche der Malerei in der Politik reagieren Diktatoren aller Art zumeist empfindlich auf stilistische Veränderungen. Diese oft geradezu hysterische Angst rührt sicherlich nicht daher, daß befürchtet wird, die gegenstandslose Malerei zum Beispiel könnte die Bevölkerung ideologisch beeinflußen. Diese Herrscher ahnen wohl mit der Empfindlichkeit von Menschen, die sich im Unrecht wissen, daß der Kunst eine schwer erfaßbare, aber eine befreiende Kraft innewohnt; und da man sie nicht verbieten kann, soll sie möglichst eingeengt und kontrolliert werden. Alles einem totalitären Regime Neue wird mit unsicherem Mißtrauen betrachtet und verboten, selbst wenn es sich, wie im Falle der gegenstandslosen Malerei, um das politisch denkbar Neutralste handelt.

Die bildende Kunst spricht vor allem das Unterbewußtsein an. Sie ist imstande, auf lange Sicht Verschiebungen im Gefühlsleben zu verursachen. Die bildende Kunst, die von einem jeweiligen Zeitgeist teilweise getragen wird, kreiert diesen Zeitgeist teilweise erst mit. Die Malerei der Gotik entspricht dem mystisch-religiösen Denken jener Zeit, sie entspricht dem Sich-Freudigen-Hingeben in ein starres, oft peinvolles Reglement. Dieser Zeitgeist ist gleichzeitig aber in hohem Maße mitgestaltet eben von jener gotischen Malerei und zwar nicht nur rückwirkend, sondern auch voranschreitend. Die Malerei beeinflußt direkt auch ihre Werke, und indirekt, indem sie die Architektur und die Gebrauchsgegenstände einer jeweiligen Zeit, einer jeweiligen Gegenwart, gestaltet. Ihre veredelnde, die Phantasie und die Empfindsamkeit anregende Wirkung geht auf lange Sicht in die Tiefe, wenn sie auch meist nicht sofort und eindeutig erkennbar ist.

Das Soziale Denken und das natürliche Gerechtigkeitsempfinden fordern mit Recht, daß die schönen Dinge des Lebens für alle da sein sollen. Der bildenden Kunst wird in diesem Zusammenhang oft vorgeworfen, sie werde von einer winzigen privilegierten Schicht geschaffen und konsumiert. Dieser Vorwurf ist erstens falsch und zweitens unzutreffend. Gerade für die bildende Kunst braucht man nämlich weder finanzielle Mittel noch einen bestimmten Bildungsgrad. Ein besitzloser Analphabet etwa kann ein Stück Holz oder Lehm finden und eine Plastik daraus formen. Es gibt auch tatsächlich heute noch Völker, die zwar keine Schuhe tragen und auch sonst ohne die Mittel des westlich verstandenen Fortschritts leben, die jedoch die großartigsten Masken zu schnitzen imstande sind. Ein mittelloser Student kann immer und überall mit einer Sperrplatte, einem Ei und etwas Farbstaub herrliche und sehr haltbare Bilder malen. Zum Kunstmachen braucht der Mensch Begabung und sonst praktisch nichts.

Auch der Konsum von bildender Kunst ist billig bis gratis. Jedermann kann die Figuren auf den Kathedralen, Bauten und Plätzen einer Stadt betrachten und bewundern. Ein Museumsbesuch kostet weniger als ein Kinobesuch und eine Kunstpostkarte von Brueghel ist billiger als eine Flasche Coca Cola. Zum Betrachten von Kunst braucht man die Liebe zur Kunst und sonst nichts. Trotzdem bleibt es eine kleine Minderheit, die direkt an ihr teilnimmt. Diese Gruppe muß allerdings als Elite bezeichnet werden, und anders kann es auch gar nicht sein. Bildende Kunst muß Spitzenleistungen erbringen, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen soll. Eine Spitze ist etwas Hohes und nicht etwas Breites. So, wie der Olympiakader für den Massensport notwendig und anregend ist, so ist auch die Gebrauchs- und Massenkunst, die einen Teil des täglichen Lebens darstellt, ohne die Spitzenleistungen der jeweils zahlenmäßig wenigen bildenden Künstler nicht denkbar. Das Verschwinden der Elitekunst und der Künstlerelite würde das Verschwinden jedweder künstlerischen Äußerung nach sich ziehen. Der elitäre Charakter der bildenden Kunst liegt im Wesen seiner Sache. Die Breite ihres Publikums hängt ab von der Kunstfreundlichkeit oder Kunstfeindlichkeit des jeweiligen Zeitgeistes. Die bildende Kunst hingegen an die mehr oder weniger große Kunstunlust eines breiten Publikums anzupassen, brächte keine Kunst ins Volk mit sich, sondern wohl eher ein Volk-ohne-Kunst.

Restkunst und Unkunst können nicht mißlingen, können nie zum Kitsch werden. Dies ist scheinbar ein Privileg der echten bildenden Kunst. Kitsch gibt es zu allen Zeiten. Nur es sind uns die frühen Erzeugnisse dieser Art nicht erhalten, da sie, wie auch heute, aus unedlen, wenig haltbaren Materialien produziert wurden. Kitsch ist das gleiche wie Kunst, nur auf einer anderen Ebene. Ein Gartenzwerg besitzt alle Merkmale der bildenden Kunst außer dem wichtigsten, der originalen, kreativen Idee. Er bezieht seine Form gewissermaßen aus zweiter Hand, und zwar bewußt und eindeutig. Seine Verzerrung, seinen Humor, seine Romantik, seine Dynamik, all seine Werte sind woanders und für etwas anderes erfunden worden. Kitsch ist in Kunst enthalten, aber nicht umgekehrt. Man kann ihn als das mißratene Kind einer schönen Mutter bezeichnen. Trotzdem erfüllt der Kitsch eine ähnliche Aufgabe wie die große Kunst. Er regt die Phantasie an, nährt und fördert das Verlangen nach Schönheit. Ja, er ist sogar imstande, bei manchen Personen tiefe und nachhaltige Eindrücke auszulösen. Manch flittergeschmücktes Madonnenbildchen hat schon mehr Emotion ausgelöst als der Isenheimer Altar. Der Flitterhimmel wird dann zum Fenster in eine Welt ewiger Pracht und Schönheit, der klischeehafte, süßliche Gesichtsausdruck der Figur zum Inbegriff jener großen Güte, nach der sich jeder Mensch eigentlich in seiner Seele sehnt. Die Wirkung geht dann vom sogenannten Kitsch nicht nur vom Thema Madonna aus, sondern vor allem von der Form. Das Wie macht einen Flitterhimmel zu einem Himmelreich. Ganz so wie bei der großen Kunst. Voraussetzung beim Kitschkonsum ist, wie schon erwähnt, daß der Betrachter unerfahren genug ist, um den Trick nicht zu durchschauen. Dieser Vorgang ist beim Betrachter echter Kunst im Prinzip der gleiche. Der Trick, der Zusammenhang zwischen formaler Gestaltung und erzieltem Eindruck, ist indes stets kompliziert und hochwertig, sodaß er vom Künstler selbst nicht mehr gänzlich durchschaut werden kann; er kann nur gefühlsmäßig erzeugt werden und eben nur von einem dafür begabten Menschen. Was man beim Kitsch als mehr oder weniger raffinierten Trick bezeichnen kann, stellt in der Kunst schon fast so etwas wie echte Zauberei dar.

Die Wirkung und Auswirkung des Kitsches hängt also in hohem Maße von den Wahrnehmungen des Betrachters ab. Wer imstande ist, echte Kunst zu erleben, dem wird ein Kitschbild zuweilen gar lächerlich oder abstoßend erscheinen. Ein solcher Betrachter wird jedoch dabei weder gewinnen noch verlieren. Es gibt viele Menschen, auf die der Kitsch eine negative Wirkung ausübt insofern, als eventuell vorhandene natürliche Gefühle für Echtes und Großes abgestumpft und verdorben werden. Mühelos konsumierbar bleibt indes Kitsch gerade für die geistige Mittelschicht, als eine Art Kulturbremse. Für einen großen Teil der Bevölkerung aber ist der Kitsch das einzig offene Tor ins Reich der Kunst. Gelangt man durch dieses Tor auch nur in ein ärmliches Vorzimmer dieses Reiches, von dem aus die Wege steiler und schwieriger weitergehen, so bedeutet es für viele die einzige Chance. Der Kitsch erfüllt also eine wichtige Aufgabe, da er trotz seiner zweifelhaften Aspekte als nützlich zu bezeichnen ist. Zwischen der großen Kunst und dem Kitsch gibt es keinen Abgrund, der beide voneinander trennt. Vielmehr haben beide eine gemeinsame Grenze. Diese allerdings ist haarscharf. Es ist bemerkenswert, wie oft große Künstler furchtlos an dieser Grenze entlang balancieren, ohne sie zu übertreten. Die Epigonen und schwächeren Nachfolger hingegen gleiten ab und versinken hoffnungslos im Kitsch, d. h. im Formlosen, im Grau und in der nichtssagenden Aussage. Man kann dieses Phänomen auch in Literatur und Musik beobachten.

Rest- und Unkunst können, wie gesagt, keinen Kitsch gebären. Denn Gefühlsduselei kann nur der Abfall von Gefühl sein und von nichts anderem. Süßlich kann nur etwas Süßes werden, nicht etwas Neutrales. Eine vordergründige Wahrheit kann nur die Verzerrung einer echten Wahrheit sein. Das Gebären von Kitsch, es mag ein Privileg oder eine Schwäche sein, ist auf jeden Fall ein ganz charakteristisches Merkmal jeder wirklichen Kunst. Alle diese Qualitäten der bildenden Kunst können nur zur Wirkung gelangen, wenn das Kunstwerk eine gewisse Dichte und Vielfalt aufweist. Es stimmt, daß nicht die Anzahl der Striche, die Masse der Farbe oder die Zahl der dargestellten Motive den Wert eines Kunstwerkes ausmachen. Aber ganz ohne Striche. Farben und Motive geht es eben auch nicht. Es gibt keinen genialen Punkt. Punkte, Linien, Flächen und Farben können nur in komplexer, verdichteter Vielfalt wirken. Ab einer gewissen elastischen Untergrenze der künstlerisch ökonomischen Sparsamkeit kann der Betrachter dem Künstler nicht

mehr folgen. Künstlerische Absicht und Begabung kommen dann nicht mehr zur Wirkung. Knapp vor dieser Grenze allerdings gibt es großartige Werke, die mit wenig sehr viel ausdrücken.

 

II.

Alle diese charakteristischen Eigenschaften treffen auf das gesamte Oeuvre bildender Kunst bis um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu. Betrachten wir die Kunst der alten Ägypter, die Höhlenmalerei in Spanien, Frankreich und Nordafrika aus der Zeit lange vor unserer Zeitrechnung, die Bilder der Chinesen, der Indianer, der Afrikaner usw., so fällt auf, daß wir keine Schwierigkeiten haben, die Malerei so zeitlich und räumlich voneinander entfernter Zivilisationen zu verstehen. Bei anderen kulturellen Äußerungen fallt uns das schwerer. Viele Europäer können arabische Musik nicht gut anhören. Das japanische Kabuki-Theater bleibt dem durchschnittlichen Nichtjapaner unverständlich, und manchen Afrikanern verursacht die mitteleuropäische Opernmusik bekanntlich eine Gänsehaut. Die bildende Kunst aller Zeiten und Völker ist uns so nahe, als hätten unsere nächsten Verwandten den Pinsel geführt auch wenn sie gar zehntausend Jahre alt ist. Es kann dafür nur eine Erklärung geben: Die bildende Kunst appelliert an Gefühle in uns, die so fundamental sind und so tief sitzen, daß sie allen Menschen verständlich sind unabhängig von ihrer jeweiligen kulturellen Zugehörigkeit. Die Gesetze der Malerei und der Bildhauerei sind offensichtlich kein kulturelles Einverständnis nur zwischen Zeitgenossen, sondern sie sind tief verwurzelt in den Urgefühlen, welche bis in die Tierwelt hineinreichen. (Das schließt natürlich nicht aus, daß, getragen von diesen Grundgesetzen, jede Zeit ihre Variante, ihren Kunststil hervorbringt.) Wenn dem so ist, so kann es in der Malerei, kunstgeschichtlich betrachtet, auch keine eigentliche Entwicklung im Sinne einer qualitativen Verbesserung geben. Wenn man das bisher auf dem weiten Felde der bildenden Kunst Geleistete überblickt, so kann davon auch keine Rede sein. Was uns die Kunstgeschichte zeigt, sind die Wellen von durchschnittlich gleichbleibender Qualität, wenn man es optimistisch betrachten will. Man könnte aber auch mit gutem Recht von sukzessive sich verflachenden Wellen sprechen. Einen sehr großer Teil der bisher von der Menschheit geschaffenen bildenden Kunst bilden die Werke der Ägypter. Dies gilt nicht nur für die Quantität und die Dauer ihrer schöpferischen Epochen der Hochkultur. Was die Qualität betrifft, so kann man sagen, daß beinahe schon die gesamte Menschheitskunst in den Werken der Ägypter enthalten ist. Eine Ausnahme ist vielleicht die Renaissance mit ihrer Licht- und Raumillusionsmalerei. Aber etwa die stilisierten Figuren der Gotik, die monumentalen Kompositionen der persischen und indischen Miniaturen, die dekorativen Elemente der arabischen Buchmalerei, der Expressionismus mit seinen Verzerrungen um des literarischen Ausdrucks Willen, der Surrealismus mit seiner geheimnisvollen Symbolik, der Kubismus, der Comic Strip, alles das ist bei den Ägyptern zumindest im Ansatz bereits angedeutet und ausgeführt. Wie kommt das?

Waren die Ägypter um so vieles begabtere Menschen als alle anderen uns nachfolgenden? Gewiß nicht. Sie waren nur einfach die ersten und sie hatten einige Jahrtausende zur Verfügung. Die im Menschen vorhandenen Möglichkeiten, sich in Bild und Plastik auszudrücken, entfalteten sich in dieser Zeit zur vollen Reife. Dieses ist der Ausdruck der bildenden Kunst des Menschen. Einen anderen gibt es nicht und wird es in, für uns relevanten Zeitabschnitten auch nicht geben.

Man spricht heute in Bezug auf bildende Kunst zuweilen von einer Avantgarde. Was stellt man sich dabei vor? Tollkühne Ledernacken der Kultur, die als erste nie betretenes Territorium erstürmen, die Vordersten in einer zu besseren, zu lichteren Höhen drängenden Front? Diese Vorstellung ist jedoch im Zusammenhang mit bildender Kunst unzulässig. Denn es gibt in der bildenden Kunst seit Jahrtausenden kein unbetretenes Terrain. Ist das Terrain wirklich neu, so liegt es jenseits der Grenzen der bildenden Kunst. Als Faustregel muß es heißen: entweder neu — oder Kunst. Es gibt nichts zu erstürmen, nichts zu erobern. Daher kann es auch keine Avantgarde geben, so wenig wie es eine solche in der Liebe, in der Angst, in der Erregung, der Langeweile und allen anderen menschlichen Grundstimmungen und Emotionen geben kann. Die Liebe zur Schönheit sitzt tief und daher unveränderlich in uns, und ebenso unveränderlich ist unser Anspruch an die bildende Kunst. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, muß sie in ihren Grundlagen gleich bleiben. Die bildende Kunst kann weder erweitert noch verkleinert werden. Natürlich brachte, wie schon erwähnt, jede Zeit ihre spezifischen Varianten. Sonst gäbe es ja keine Kunstgeschichte, keine Geschichte der Kunst. Blättern wir in einem Kunstlexikon die Jahrtausende durch, so ist zu erkennen, wie die verschiedenen Kunsterlebnisse im Laufe der Zeit immer wiederkehren. Manchmal kommen frühe Ansätze erst im nachhinein zu großartiger Blüte. Oft tauchen starke Ideen in verwässerter Form wieder auf. Selten erwächst dem Baum wirklich ein neuer Zweig, in der Form wie etwa die schon erwähnte Renaissance-Malerei oder vielleicht auch der Impressionismus gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Alle diese beglückenden Bereicherungen sind natürlich fest verankert in den Grundgesetzen der bildenden Kunst; ein neuer Zweig, vielleicht sogar ein neuer Ast zeigt sich mitunter, aber es bleibt immer der gleiche Stamm.

Im letzten Jahrhundert befand sich die Malerei offenbar in einem ihrer Wellentäler. Die Biedermeiermalerei war teilweise erstarrt, die romantischen Gefühle wurden in einer oberflächlichen Weise befriedigt. Der formale Reiz: heller Himmel — dunkler Baum — hell-dunkle Figur, wurde von Schwachbegabten unablässig wiederholt und verwässert. Die Revolution war daher unausbleiblich. Die Künstler, die sie vorantrugen, sind deshalb nicht als eine Avantgarde, sondern eher als die Wiederhersteller einer verlorengegangenen Kraft zu verstehen. Sie entdeckten eine uralte, von den Ägyptern bereits meisterhaft verwendete Wahrheit wieder: die Abstraktion. Zu Beginn der Bewegung wurde dieses Wort noch nicht verwendet, aber es ging von Anfang an um das Abstrahieren, um ein Weglassen. Man verzichtete auf das eine, um einem anderen zu größerer Wichtigkeit zu verhelfen. Ein Impressionist verzichtet auf die eindeutige Form der Zeichnung, teilweise auch auf die optische Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit, und er steigert damit die Ausdruckskraft seiner Farben. Ein Expressionist verzichtet auf die optisch richtige Anatomie seiner Figuren und gewinnt durch Verzerrung seinen beabsichtigten literarischen Ausdruck. Die frühen Kubisten, vor allem Picasso, balancierten denn auch delikat zwischen figurativer und einer gegenstandslosen Malerei. Diese Werke waren getragen von den Flächen, die nach den Gesetzen der Schönheit aufgegliedert waren. Die Figuren zeigten sich meist fragmentarisch und verzerrt.

Eine solche Malerei regt die Phantasie des Betrachters in hohem Maße an, besonders wenn die Figuren noch als solche erkennbar sind. Westafrikaner und Indianer haben eine Kunst, die traditionellerweise auf diesen Erkenntnissen beruht. Die Künstler jener Zeit um die Jahrhundertwende waren von diesem Weglassen, von diesem Durchforsten so fasziniert, daß sie immer sparsamer, immer asketischer in ihrer künstlerischen Gestaltung wurden. Die Figuren gerieten zunehmend zum Kürzel und verschwanden schließlich ganz. Die gegenstandslose Belebung der Fläche war jedoch noch immer getragen von den Grundgesetzen der Schönheit und Harmonie, obgleich sie immer karger geriet.

Schon zu Beginn dieser erneuernden Entwicklung zeigte sich unter den Künstlern das starke Bestreben, sich zu ideologisch unterschiedlich motivierten Gruppen zusammenzuschließen. Das Wort vom Ismus begann damals seinen bis heute andauernden Hexentanz. Das Streben nach einer bloßen Qualität in der Malerei schien nicht mehr zu genügen. Man suchte daher nach neuen Rechtfertigungen, man suchte vor allem nach neuen  Zielen. Das theoretische Denken spielte in der Malerei der Vergangenheit eine eher geringe Rolle. Stilrichtungen wurden von den Zeitgenossen zumeist akzeptiert und die Veränderungen gingen auch in den Umbruch- und Aufbruchzeiten so langsam vor sich, daß der einzelne Künstler sie kaum bemerkte.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde die Malerei bewußt und in noch nie dagewesenem Tempo verändert. Hatte man die Kunst bislang gewissermaßen allein wachsen lassen, so begann man sie jetzt zu züchten. Dabei spielten von Anfang an auch kunstfremde Interessen wie Geschäft und Politik eine Rolle. Der wichtigste Teil dieser Entwicklung war eigentlich schon um 1914 abgeschlossen. Kubisten, Futuristen und Konstruktivisten hatten die Grenzen der figurativen Malerei überschritten. Man kann sagen, daß der Maler Pablo Picasso im Alleingang die meisten Möglichkeiten des „Weglassens" im Rahmen der Malerei durchschritten hatte. In den 20er und 30er Jahren begann dann bereits das große Ausschlachten dieser eigentlichen Errungenschaften. Es begann die lange Zeit der Epigonen. Immer neue Namen wurden danach für ähnliche oder gleiche Tendenzen erfunden. Zum russischen Konstruktivismus gesellte sich Purismus, de Stijl, Neo-Plastizismus, Konkrete Kunst; alle proklamierten neue Theorien, erbrachten aber ähnliche Resultate. Neu hingegen waren die Bestrebungen der Dadaisten, die deutlich an den Grundfesten der Malerei, vor allem in ihren Theorien rüttelten. Sie waren wohl auch die ersten Künstler, deren Hauptanliegen in außerkünstlichen Belangen lag. „Dada war die anarchistische Empörung über das Völkermorden, genannt I. Weltkrieg, sowie über jene Zivilisation die das hervorgebracht hatte" bekannte Max Ernst. „Merde ä la beaute" lautete denn auch folgerichtig einer ihrer Slogan. Die Begabtesten unter den Dadaisten schrien oft am lautesten, malten aber fleißig weiter ihre Bilder, die natürlich auch schön waren. Die Dadaisten kamen zu ihrer intellektuellen Abneigung gegen die Schönheit aus dem berechtigten Mißtrauen gegenüber einer degenerierten Ästhetik, die als die falsche Schwester der Schönheit die Kunst immer begleitet hat: dies manchmal mehr, manchmal weniger.

Zu jener Zeit nach der Jahrhundertwende war merkwürdigerweise und gleichzeitig der großartige Aufschwung zahlreicher figurativer Bestrebungen zu beobachten, wie in der Neuen Sachlichkeit, dem Magischen Realismus, dem Verismus, im Sozialen Realismus, Sozialistischen Realismus, im Konstruktiven Realismus, im Kubo-Realismus, im Klassischen Realismus und vor allem in den zahlreichen Formen des Surrealismus. Auch für diese Strömungen war es charakteristisch, nach ideologischen Begründungen für die Malerei zu suchen. Das Malen allein genügte nicht. Ein Manifest, ein Ismus mußte als geistiger Überbau mit dabei sein. Dies drückte sich besonders stark bei den Surrealisten aus, die, ähnlich den Dadaisten, ihre Manifeste als eine Art allgemeinen Weltbildes verstanden, das sie mit religiösem Eifer zu verteidigen suchten. Dementsprechend groß erwies sich bei den Surrealisten der Widerspruch zwischen der Theorie und Praxis.  Stammte die Idee, das Malen auch aus dem Unterbewußtsein, so waren die besten Resultate doch durchwegs genial durchdachte, hellwach ausgetüfftelte Kompositionen, und somit wohl eigentlich die Zeugen für die großartige Schöpferkraft des menschlichen Bewußtseins. Der Anteil des Unterbewußtseins ist bei den Surrealisten so groß wie bei jeder echten Malerei.

Vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges ergab sich rückblickend folgendes Bild: die sogenannte gegenstandslose Malerei durcheilte eine rasche Entwicklung und kurze Phase der Dekadenz. Sie hat somit ihre kunsthistorische Aufgabe erfüllt. Die figurative Malerei bricht sich kraftvoll und mit großer Vielfalt wieder ihre Bahn. Wie wir heute wissen, kam es jedoch anders. Schon damals wurde die Belebung der figurativen Malerei von manchen Zeitgenossen als Rückschlag, als eine Art Konterrevolution ausgelegt.

 

III.

Etwa um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde der gemalte, figurative Gegenstand gewissermaßen verboten. Die rote Farbe sollte etwa nicht vortäuschen, ein roter Mantel oder Schmetterling zu sein, sondern sie sollte rote Farbe sein, sonst nichts. Dieses totale Umdenken wurde als ein Aufbruch, als der Beginn einer neuen Ära und als die Befreiung von einer jahrtausendealten Last verstanden. Es ging nicht um noch einen Ismus, sondern es ging um etwas Neues anstelle des Alten. Die Farbspritzer sollten die Illusionsmalerei verdrängen.

Die Arbeiten des Tachisten Wols werden an einer Stelle denn auch dementsprechend beschrieben: „Wols überschwemmt jegliche an etwas gemahnende Figur durch graue Flüsse, Bäche, Rinnsale von Terpentin, damit sie alles Feste, alle Konturen auflösen und zernagen. Strukturen werden sichtbar. Er geht den Spuren nach. Andeutungen werden gefaßt, zusammengezogen, belebt, gelöscht und durch farbige Spritzer, Kommata, Punkte, Linien, Pinselschwünge, kürzere oder ausholende Gesten, für die es keine formalen oder psychologischen Gründe gibt. Sie nisten sich an unberechenbaren Stellen ein, verknoten und verdichten sich zu Figurationen, zu Zeichen, zu Dinglichkeiten vorher nicht gesehener Erscheinung und überraschend unerklärlicher Bedeutung." Was hier aufwendig geschildert ist, das ist doch wohl eindeutig jener allgemein bekannte Vorgang des Herumkraxelns und -kritzeins, wie ihn jedes Kind ausfuhrt, wenn es zu klein oder zu müde ist, um sich zu konzentrieren. Für einen normalen Erwachsenen bedarf es einer gewissen Anstrengung, alle seine Erfahrungen und Möglichkeiten über den Haufen zu werfen und sich einem gedankenlosen Bewegungsablauf hinzugeben. Es mag sein, daß für manchen darin neue Erfahrungsmöglichkeiten liegen. Was aber soll das dem Kunstbetrachter geben? Mit welchem Recht fordert man dafür das Interesse der Öffentlichkeit? Warum besetzen die materiellen Spuren dieser Entspannungsübungen die Museumswände? Die Entwicklung geht noch weiter: „Spritzmalerei", „Farbdripping", „Action Painting" waren alle darauf aus, Bilder ohne den Maler herzustellen. Dabei wurden seltsame Unternehmungen veranstaltet: man tröpfelte die Farbe rinnen, und die Kunst sich selbst Fenster hinaus, man ließ Hunde und nackte Frauen in Farbnäpfe tappen und über eine am Boden liegende Leinwand hopsen. Man ließ also die Farbe rinnen, und die die Kunst sich selbst verursachen. Alle diese Tätigkeiten haben mit bildender Kunst gewiß nichts zu tun. Denn ebenso könnte ein Radfahrer behaupten, er sei Bildhauer, weil sich das Profil seines Radmantels im Straßenstaub abdrückt. Und ebenso gut könnte man jedweden zufällig verursachten Kratzer oder Fleck als ein Bild bezeichnen.

Gleichlaufend gab es auch eine Strömung, die ich mit dem Namen „Materialfetischismus" bezeichnen möchte (auch Materialkunst, Informell genannt). Das Material, der geschliffene Stein, das bearbeitete Holz, die aufgetragene Farbe, besaß in der bildenden Kunst seit eh und je einen starken, die Phantasie anregenden Reiz. Genauer gesagt geht dieser Reiz von der veredelnden Bearbeitung des Materials selber aus. Die gleiche Ölfarbe, die bei Van Eyck wie ein geschliffener Diamant wirkt, ist von einem Anstreicher aufgepinselt künstlerisch uninteressant. Dieser Materialreiz, eine selbstverständliche Nebenerscheinung der bildenden Kunst, wurde von den Materialfetischisten als das einzige Wichtige verstanden. Sprünge und Risse wurden mit Absicht herbeigeführt, Sand wurde aufgeklebt, das Leimpapier und andere Techniken aus der Bastelstunde kamen zu Ehren (frottage, fumage etc.). Selbstverständlich kann man mit fast jedem Material großartige Kunstwerke schaffen, wenngleich sich die Farbe als besonders haltbar und geeignet anbietet. Aber die Voraussetzung bleibt, daß das Material so komponiert und bearbeitet wird, daß es figurativ oder dekorativ etwas darstellt. Von Ausmaß und Qualität des Formungswillens hängt es ab, ob der Sand Sand bleibt oder zu Form und Farbe wird, die eine Aussage beinhaltet. Gerade das aber wurde dort qualvoll vermieden. Die Darstellung selber wurde mehr und mehr fallengelassen, um den Materialreiz stärker zum Ausdruck zu bringen. Das führte zuletzt dazu, daß das Material selbst zum Gegenstand wurde; man klebte und montierte Gegenstände aller Art auf die Fläche. Diese wirkten nun nicht mehr als Material, sondern eben als Gegenstände, die sie waren (Fallbild, Assemblage).

Die Auswahl und Anordnung dieser Gegenstände waren dabei der letzte bescheidene Rest kreativer Tätigkeit, etwa so wie das Arrangieren einer Auslage ein entfernter Verwandter der bildenden Kunst darstellt. Auch dieser Rest wurde bald überwunden und man überließ es bewußt dem Zufall, welche Dinge oder Abfälle wie und wo schließlich klebten (objets trouves). Diese Bestrebungen führten zur totalen Abstrahierung sämtlicher charakteristischer Eigenschaften der bildenden Kunst.

Dies ging natürlich nicht alles so glatt und eindeutig vor sich, wie es hier skizziert ist. Immer wieder kamen hochbegabte Künstler, die, ohne aus der allgemeinen freiwilligen Massenkastration ausbrechen zu können, mit den kargen Resten der alten Kunst noch wichtige Arbeiten schufen. Tatsächlich entstehen oft knapp an der Grenze der Kunst großartige Werke. Vielleicht ist es gerade die Nähe des Kunstlosen, die die Werte der Kunst umso dramatischer zum Vorschein bringt. Eine sparsame ausgenützte Struktur an wenigen Punkten bildnerisch aufgefangen kann oft mehr ausdrücken als der durchgepinselte Gegenstand. Wird aber jene delikate Grenze überschritten, wo vom Zufall zuviel und vom Bildnerischen zu wenig oder gar nichts zu sehen ist, dann kann die Phantasie des Betrachters nicht mehr mithalten. Was er dann sieht ist nicht mehr das faszinierende Herausholen einer Illusion aus dem Material, sondern eine strukturierte Oberfläche, wie sie jedweder natürliche Gegenstand aufweist.

Eine weitere Strömung war in diesem Reigen von Restkunst der „neue konkrete Konstruktivismus", die Linealkünstler. Sie verzichteten u. a. auf ein Grundmerkmal der Malerei, das mir sehr wesentlich erscheint, ich möchte es fast als heilig bezeichnen: die mit freier Hand gezogene Linie. Hundertwasser schreibt in seinem Verschimmelungsmanifest: „Die gerade Linie ist gottlos und  unmoralisch." Hier aber zog das Lineal die Kanten, der Künstler entschied lediglich ihre Anordnung. Die Farben dieser Werke waren zumeist glatt, flach und undurchdringlich aufgetragen. Die Absicht war dabei, das Handwerkliche, das Menschliche der Malerei möglichst zu vertuschen und eine sachliche, kalt berechnete Wirkung zu erzielen, wie es bei der Industrieproduktion der Fall ist. Man ging davon aus, daß die geometrischen Formen mathematisch berechenbar, eindeutig überschaubar und daher beweisbar sind. Diese vom logisch Erklärbaren ausgehende Faszination hatte ja bekanntlich auch auf die Architektur einen großen und, wie mir scheint, verderblichen Einfluß. Alle antiken Ornamente und Figurationen waren schließlich auch in der Nähe

der Geometrie angesiedelt und von dieser gewissermaßen beseelt. Aber bei den regelmäßigen Marmorfalten eines ägyptischen Lendenschurzes blieb die Geometrie ein stilisierendes, erklärendes Element der Figuration und auch im Ornament war immer eine figurative Anspielung enthalten. Der gerade Strich oder der runde Kreis an sich haben nie genügt, um in der bildenden Kunst etwas auszudrücken. Theoretisch ist jede Form abmeßbar und geometrisch erfaßbar. Allein die Dinge und Wesen der Welt sind kompliziert, komplex und vielschichtig. Eine Wiese z. B. hat eine derartige vielfältige Geometrie, daß es praktisch unmöglich ist, sie mathematisch zu erfassen. Mir scheint dies auch völlig überflüssig, ist der Mensch doch imstande, kraft seiner Begabung viel näher an die Wahrheit heranzukommen als Maßstab und Lineal. Geometrie ist präzise, aber primitiv.

Im totalen Nichts landeten diese Bestrebungen in der sogenannten Minimalart. Ich möchte hier eine offizielle Definition wiedergeben: Minimal-art: Bezeichnung für eine Kunstrichtung der Gegenwart, die ihr kompositorisches Repertoire auf wenige, raumfixierende Determinanten reduziert, so daß die Erscheinung von Raum als manipulierbares Proportionalverhältnis exemplarisch anschaubar wird. Wenn man das einmal optisch umsetzt, kommt folgendes dabei heraus: eine weiße Fläche, links ein schwarzer Punkt, rechts ein schwarzer kurzer Strich. Nehmen wir einmal an, es wird dabei tatsächlich der Raum als „manipulierbares Proportionalverhältnis anschaubar" — was soll man damit anfangen? Was erlebe ich dabei? Ist das wirklich alles? Soll das anstelle eines Selbstbildnisses von Rembrandt über unseren Betten hängen?

Man könnte indes solchen Bestrebungen wohlwollend beifügen, die Moderne habe ihre Schuldigkeit getan, sie habe aufgeräumt mit der Pseudoästhetik des 19. Jahrhunderts. Die Augen sind damit gewaschen. Der Weg ist frei für die immer alte und immer neue schöne Malerei. Doch die immer gegenstandsloser sich aufrührende Malweise verbreitete sich über die gesamte Welt mit der Schnelligkeit und Wucht einer Seuche. Die gemalte Malerei wurde nur von wenigen Einzelgängern noch weitergepflegt, wie etwa von Richard Lindner, Francis Bacon, Friedensreich Hundertwasser, Swanberg, Schroeder-Sonnenstern, Wunderlich, Shmuel Bak, und als einzige gruppierte Strömung der Wiener Schule des Phantastischen Realismus.

Alle diese Künstler konnten aber das Steuer nicht mehr herumreißen. Der eingeschlagene Weg fort von allem, was an die alte Malerei erinnert, wurde fortgesetzt. Die Malerei der Restmerkmale, die Restkunst, wurde schließlich noch konsequenterweise überwunden. Man befand sich vor dem leeren Bilderrahmen, und das im wörtlich zu verstehen. Von dieser Zeit an begann sich der Kreisel immer rascher zu drehen. Die Befreiung von allen Kriterien und Maßstäben, die Befreiung von der Malerei brachte eine Befreiung von jedweder Verantwortung mit sich. Jeder neue Ismus beansprucht für sich, der einzig wahre Ausdruck seiner Zeit zu sein. Wobei sich allerdings nicht selten die diversen Theorien widersprechen. Sind di e einen angeblich so gut, weil sie in Farbe wühlen, so sind es die anderen, weil sie monochrom malen. Ist nun etwa das Lineal der einzig gültige Ausdruck einer Zeit oder die spontan verschüttete Farbe? Können die raffiniert ausgetüfftelten Produkte der Op art gelten und zugleich das zufällig gefundene Objet-trouve? Kann ein Kunstmuseum heute den Superrealismus ausstellen und morgen die Bodyart? Fast immer sahen sich die . Verfasser jener Manifeste als die alleinigen Finder und Erfinder absoluter Wahrheit. „Im Jahre soundso kann man nur noch ..." oder „man darf jetzt nur mehr . . ." usw.

Trotz dieser Widersprüche akzeptieren die modern orientierten Kunstexperten nicht nur den einen oder anderen Ismus, sondern die gesamte Entwicklung. Es geht also offensichtlich nicht um vielfarbig oder monochrom, sondern um das allen diesen Ismen gemeinsame Phänomen des Abrückens von der Malerei; In welcher Form diese Entkunstung vor sich geht, ist dabei scheinbar von zweitrangiger Bedeutung. Als wahr, als interessant, als zeitgemäß empfunden wird eben jenes Springen zwischen den Extremen, die möglichst jenseits der Grenzen des Kunstbegriffes liegen sollen.

 

IV.

Einen besonderen Platz in diesem Totentanz der bildenden Kunst nimmt zweifellos die Pop art ein. In ihr lag denn eine mögliche Chance für einen neuen Aufbruch. Es scheint aber, daß diese Chance bereits verspielt ist. Das seit gut zwanzig Jahren verbotene figurative Malen wurde mit einem Schlage zur neuesten Entdeckung, zum letzten Schrei der Avantgarde. Das Bild als Illusion war damit wieder da, allerdings unter der Bedingung: es durfte nicht schön sein. Das hätte das sofortige Ende der Modernen mit allem, was daran hängt und davon lebt, bedeutet. Die Figur war wieder gestattet, desgleichen anatomisch richtige Zeichnung und dynamische Komposition. Nicht gestattet war hingegen die schöpferisch stilisierende Veränderung der optischen Wirklichkeit, die veredelnde handwerkliche Behandlung der Farbe, sowie jenes vage Unvollendete, das das große Kunstwerk charakterisiert. Verboten war alles, was große Kunst von Gebrauchskunst unterscheidet, denn Gebrauchskunst sollte es ja sein.

Pop art ist ein schöner Name. Man denkt dabei an eine Kunst, die alle erfaßt, die jedermann besitzt, die jedermann machen kann. Es erinnert auch an eine Entmachtung der Kunstelite. Tatsächlich besteht aber zwischen dem Volk und der Pop art ein Abgrund von unüberbrückbarer Tiefe. Tatsächlich wurden nur wenige Bilder zeitgenössischer Malerei so teuer verkauft, wie einige Werke der Pop art. Diese Strömung stammt bekanntlich aus England und den U. S.A., und sie ist wohl der bisher wesentlichste amerikanische Beitrag zur bildenden Kunst. Als Gebrauchskunst gibt es diese Art von Darstellungen jedoch schon seit langem: Es sind die Plakate, die Comic Strips, Publizitätsfotos und -grafiken, es ist jener vereinfachte, verwässerte Ableger der Malerei wie wir ihn täglich vor Augen haben. Diese Gebrauchskunst hat den Platz einer früheren Volkskunst eingenommen. Was einst die Rosen auf den Bauernkästen, die schäumenden Bierkrüge auf den Schildern der Wirtshäuser waren, sind jetzt die Poster an den Wänden, die Lichtreklame, die Comicstrips. So schematisch lieblos und eintönig diese Dinge meist hergestellt werden, so vermitteln sie doch einen Hauch jener großartigen bildenden Kunst, von der sie abstammen. Eine wichtige, eine nützliche Sache.

Zur Pop art gerieten diese vom Kulturleben bislang unbeachteten Produktionen erst durch einen Gedankensprung. Man vergrößert eine Comicstrip-Zeichnung, hängt sie in eine Kunstausstellung und siehe da, im Vergleich zu den Wischern und Tupfern der Tachisten und zu den eisigen Balken der Linealkünstler wirkt das Bild tatsächlich als Kunstwerk. Es hat Dynamik in der Bewegung, literarischen Ausdruck, gut gezeichnete Verkürzung. Lauter charakteristische Merkmale der Malerei. Das Popart-Bild ist nach einer Vorlage gezeichnet, mit allen Schwächen und "Oberflächlichkeiten einer Massenproduktion behaftet. Nie könnte es in einer Ausstellung zusammen mit wirklichen Kunstbildern bestehen. Zwischen den Kunstruinen, der Rest- und Unkunst aber fällt es angenehm auf. Hier wirkt es als ein Lichtblick. Was würde jedoch noch geschehen, wenn man nun diesen Lichtblick weiter ausbauen würde, wenn man die Komposition interessanter gestalten würde, wenn man die Figuren nicht einfach von Photografen abzeichnen, sondern kreativ stilisieren würde, wenn man anstatt mit Sprühdose und Schablone zu arbeiten, die Farbe schöpferisch veredelte? Was würde geschehen, wenn man alles einfach besser machen würde?

Man stünde wieder vor der alten Malerei und würde mit dieser wieder der Massenproduktion, der Gebrauchskunst vorausgehen anstatt mehr oder weniger hilflos in ihrem Fahrwasser herumzupaddeln. Die Maler der Pop art sind nämlich nicht imstande, es den wirklichen Gebrauchskünstlern gleichzutun, auch wenn sie aus diesem Berufszweig kommen. Das liegt sicher nicht am Mangel an Begabung, sondern an den geringeren räumlichen und finanziellen Möglichkeiten, die ihnen meist zur Verfügung stehen. Von diesen Möglichkeiten ist nämlich die Gebrauchskunst in hohem Maße abhängig. Was der nächtliche  Broadway an Pop art bietet, kann in keinem Museum gezeigt werden, weil die wolkenkratzerhohen Lichtreklamen, die Automassen und sogar die Kleider der Passanten eben dazugehören.

Warum diese bereits massenhaft und seit langem vorhandenen Produkte plötzlich als neu und wertvoll im Rahmen von Kunstausstellungen gezeigt werden, wird wiederum, wie gehabt, mit der Erweiterung des Kunstbegriffes begründet. Die Erfindung, falls es sich um eine solche handelt, die Leistung der Popartisten ist eine rein denkerische, eine philosophische und keine künstlerische. Es würde genügen, in Wort und Schrift zu verkünden: Die Gebrauchskunst ist die wahre Kunst unserer Epoche. Selbst wenn man dieser Parole zustimmte, was ich keinesfalls tun möchte, so ist nicht einzusehen, wozu diese Weisheit mit Ausstellungen demonstriert werden soll und warum ihre Exponate zu Unsummen verkauft werden müssen. Die Pop art hat, und das ist typisch für ihren Kunstcharakter, die Gebrauchskunst rückwirkend teilweise beeinflußt, vor allem, so weit es sich um bestimmte Kreise und die Jugend ansprechende Produkte handelt. Ihre große Chance, der bildenden Kunst wieder auf die Beine zu helfen hat sie aber wahrscheinlich schon versäumt. Ich glaube auch, den Grund dafür zu kennen: Wenn aus der Pop art echte große Malerei entwüchse, wäre nämlich der Kreis geschlossen und das ganze Festival zu Ende. Alle überflüssigen Kunstideologien könnten abtreten, alle unbegabten Scharlatane müßten verschwinden. Und diese Leute bilden eine mächtige Mehrheit. Doch davon später.

Charakteristisch für den verfehlten Weg der Popart ist ein Auswuchs, der sich Tapetenkunst nennt. So werden Tapeten gemalt und als Kunstwerke bezeichnet. Von der normalen Gebrauchstapete unterscheiden sie sich durch nichts, außer  vielleicht dadurch, daß sie meist viel schlechter sind und nie am freien Markt konkurrieren könnten. Der Gedanke aber ist eigentlich naheliegend. Wenn es die Gebrauchskunst ist, die den Platz der Kunst einnehmen soll, warum dann nicht auch die Tapete?

Was aus der Pop art zumindest teilweise herauswuchs, ist der sogenannte Superrealismus oder Photorealismus. Es wurde schon geschildert, wie das menschliche Unvermögen der totalen naturgetreuen Darstellung, „die Lücke", von der menschlichen Phantasie ausgefüllt wird. Es zeigten sich seit der griechischen Antike immer wieder Bestrebungen, diese Lücke zu schließen; Er wurde aber nie erreicht. Die Erfindung der Photografie stellte einen gigantischer Schock für alle an bildender Kunst Interessierten dar. Zum erstenmal erblickt man den Baum mit allen seinen Blättern, zweidimensional im Postkartenformat. So sah das also aus!

Die Bewunderung für diese technische Errungenschaft war groß, die Enttäuschung über die künstlerische Wirkung unterdessen noch größer. Es zeigte sich nämlich, daß ein zweidimensionaler Baum mit sämtlichen Blättern, aber ohne die menschliche hinzugefügte Phantasie, uninteressant ist. Die Reaktionen der Künstler auf die Erfindung der Photografie war daher keineswegs der Versuch, es dem Photoapparat gleichzutun, sondern zeigte sich in einer Beschleunigung der Abkehr vom Naturalismus. Die technischen Möglichkeiten unserer Tage erlauben einen totalen Naturalismus in Bild und Skulptur. Die Industrie ist imstande, aus Plastikmaterial eine Zitrone herzustellen, die von einer echten mit dem Auge nicht unterschieden werden kann. Man kann daher auch einen menschlichen Akt lebensgroß, naturgetreu, herstellen. Natürlich meint es einen Schock für den Betrachter, wenn ein solches Objekt, in einem Plexiglaskasten liegend, einen ganzen Museumsraum beherrscht. Die Wachsfigurenerzeuger der Vergangenheit sind überholt. Ist es das, was vorschwebte? Viele Superrealisten trachten, ihre künstlerische Begabung dadurch einzusetzen, daß sie mehrere Figuren zusammen arrangieren, oft mit sozialen oder politischen Anspielungen. Wie minimal, wie schmal sind diese Möglichkeiten aber im Vergleich zu jenem tollkühnen „Auffüllen der Lücke", jenem gewissermaßen Aus-dem-Nichts-heraus-Erfinden einer Welt.

Noch geringer scheinen mir die Möglichkeiten des Superrealismus im zweidimensionalen Bild. Hier werden Photographien naturgetreu übertragen. Und man fragt sich oft, warum nicht gleich das Photo, das „Original" ausgestellt wird. Auch hier gibt es einige Künstler, die an ihrer eigenen Begabung nicht vorbeikommen und phantasievoll Kompositionen, oft mit literarischem Inhalt, malen. Ich habe beim Betrachten dieser Arbeiten das Gefühl, die bildende Kunst stehe unsichtbar, aber doch anwesend dabei hinter der Leinwand. Es fehlt nicht viel und sie bricht voll durch. Es genügt nämlich die kleinste Lücke zwischen Bild und Natur, um die Phantasie in jeder vorhandenen Menge und Intensität einströmen zu lassen. Es ist jedoch in der Kunst jener Richtung, als stünde eine Barriere zwischen den Künstlern und der Kunst, die sie nicht zu übersteigen wagen aus Furcht, das Resultat könnte an die alte bildende Kunst erinnern. Trotz allem sehe ich im Superrealismus eine mögliche Chance für die Zukunft. Die Photographie hat mit der Malerei gemein, daß sie wie diese dreidimensionale Körper auf eine zweidimensionale Fläche überträgt. Da es aber nicht dieser Vorgang an sich ist, der die bildende Kunst zur Kunst erhebt, sondern die dabei ins Spiel gebrachte menschliche Phantasie, wurde das Photo von Anfang an völlig anders gewertet als das gemalte Bild. Die Kunstnähe der Photographie ergibt sich aus der Möglichkeit, Motiv, Licht und Blickwinkel schöpferisch auszuwählen. So schwierig es ist, Kunst auf ihr Gewicht hin zu bemessen, so kann man doch sagen, daß die Photographie im Vergleich zur Malerei eher eine Kleinkunst ist. Die Schaffung genialer, die Zeiten überdauernder Kunstwerke ist in diesem Medium noch nicht möglich. Es wird daher vielleicht nie einen Rembrandt der Photographie geben. Dies soll keineswegs eine Qualifikation für den Wert dieser Kunst im allgemeinen sein. Es steht ja keineswegs fest, ob die Kleinkunst weniger wichtig ist als die Großkunst. Jede Form hat aber ihren Bereich, in dem allein sie zur vollen Wirkung kommen kann. Die Photographie gehört als Reproduktion in die Presse, in die schönen Bücher und ins Familienalbum. An die Wände der Museen und Kunstgalerien gehören die von Menschen gemalten Bilder.

Maschinen spielen mittlerweile in unserer Welt eine große Rolle. Es ist daher nur natürlich, dass auch die Künstler sich mit dem Phänomen der Maschine auseinandersetzen. Es gibt auch tatsächlich eine Reihe von Künstlern, wie etwa der Schweizer Tinguely, die es verstehen, Maschinenteile derart zu komponieren, daß daraus eine Skulptur von formalem Wert entsteht, welche oft auch auf spielerisch-humorvolle oder literarisch-poetische Weise funktioniert. Es ist ähnlich wie bei jenen Künstlern, die aus dem Abfall aller Art Bilder und Skulpturen von erstaunlicher Vielfalt erbauen können. Aber die Entwicklung insgesamt geht leider nicht in die Richtung einer weiteren Verdichtung, welche über Jahrzehnte hinweg in die gleiche Kerbe schlagen müßte, um schließlich die Intensität der eigentlichen Bildhauerei zu erreichen. Nein, ganz im Gegenteil. Eine Anzahl unreifer Zyniker, ohne jedwede künstlerische Ausbildung und Ambition, schleppen beliebige Maschinentrümmer in Ausstellungen und werfen sie auf den Sockel, unberührt und unverändert. Kann so die bildende Kunst ihre Zeit ausdrücken? Kann sie so das Bewußtsein erweitern? Sichtbar machen? Aufdecken?

Kunst drückt ihre Zeit nicht aus, indem sie zeitcharakteristische Produkte und Fabrikate mehr oder weniger hilflos nachäfft. Das Phänomen Maschine etwa müßte schon auf eine andere Ebene verlagert werden. Die Aussage müßte weitgehend verdichtet, das heißt verschlüsselt sein, um von der bildenden Kunst übermittelt werden zu können. Wie ich es verstehe, ist das überhaupt Zeitbezogene ein nicht unbedingt notwendiges Merkmal in der bildenden Kunst. Ein Zeitproblem kann natürlich den Künstler anspornen. Für das Resultat ist es auf lange Sicht von geringer Bedeutung. Wen interessiert es heute denn schon, welche Ritter gegen welche Ritter in den Krieg ziehen auf Uccellos Lanzenbild. Wichtig ist, viel eher, wie die Lanzen die Komposition durchschneiden, wie Pferdeleiber diese zusammenhalten, usw. Dieses Wie trägt nicht nur die zeitlosen Werte der bildenden Kunst, es drückt auch die Zeit, den Zeitgeist auf viel dauerhaftere, tiefere Weise aus als das Was, das Thema. Der Maler Ernst Fuchs bemerkte einmal dazu: Je  näher sie (die Künstler) dem Genie waren, desto ferner blieben sie ihrer Zeit. Kunst macht keine Kleider, die eines Tages nicht mehr getragen werden. Darin unterscheidet sie sich von der Mode. Kunst hat keine Moderne!

Verglichen mit den sinnvollen funktionierenden Maschinen und Apparaturen in den Fabriken wirken die diesbezüglichen Bemühungen der Künstler meist wie sinnloses Spielzeug, vor allem dann, wenn sie nicht künstlerisch im Sinne der bildenden Kunst gestaltet sind. Dies ist aber meist nur im Ansatz, oder gar nicht der Fall. Es soll ja keine „ästhetische" Figur geschaffen werden, da könnte man ja gleich wieder zum Marmorblock greifen. . . Vielmehr will man eine Idee, einen Denkanstoß illustrieren. Es scheint indes so zu sein, daß es für diesen Denkanstoß besser wäre, eine wirkliche Fabrik aufzusuchen. Es gibt Maschinenungeheuer, die als Gebilde und in ihrer Funktion einen schockierenden Eindruck auslösen, der sicher den Charakter eines bewußtseinserweiternden Denkanstoßes haben kann. Mit Kunst oder mit Kunstbetrachtung hat das Ganze jedoch gewiß nichts zu tun. Die nachgebastelten Maschinen der Künstler sind, was den Schock anbelangt, zweifelsohne viel schwächer und ihre künstlerischen Qualitäten können sich in den meisten Fällen in keiner Weise mit den Kunstwerken der Vergangenheit messen. Man kann dazu sagen: für eine Maschine zu „kunstlig", für eine Plastik zu viele Schrauben. Auch diese Strömung ist gekennzeichnet, man möchte fast sagen gezeichnet, von der allgemeinen Tendenz in der Moderne: Philosophie anstelle von bildender Kunst!

In den meisten Jugendorganisationen, von den Pfadfindern bis hin zum kommunistischen Jugendverband, war es schon immer üblich, an den Außenwänden der Jugendheime einen sogenannten Schaukasten anzubringen. Dieser wurde mit Photomontagen, Plakaten, Schriften, Skizzen usw. dekoriert, wobei sowohl die beliebten Pingpongabende als auch die politische Weltsituation als Themen zum Zuge kamen. Daß es sich dabei allerdings um „Politkunst" handeln könnte, die es wert sei, in Kunstausstellungen gefeiert zu werden, daran dachte wohl keiner der jungen „Schaukastenverantwortlichen". Diese zusätzliche Bewußtseinserweiterung brachte uns erst in jüngster Zeit der politisch interessierte Flügel der sogenannten Avantgarde.

Die Bildende Kunst wurde zu allen Zeiten zu religiöser und politischer Beeinflussung herangezogen und verwendet. In den antiken Großreichen, wo sich die sozialen und politischen Gegebenheiten über Jahrhunderte nur wenig veränderten, war dies auch möglich. In unseren Tagen hingegen ändern sich die Gegebenheiten gewissermaßen schneller, als die Ölfarbe trocknen kann. Der sanfte, auf eine sehr lange Sicht wirkende Einfluß der bildenden Kunst auf den Menschen erweist sich in unseren Tagen dagegen als wirkungsschwach. Andere Künste, wie etwa der Film, des Wort, das Chanson, das Theater sind da rascher und wirkungsvoller. Es gibt aber einige Nebenzweige der bildenden Kunst, die sich gut angepaßt haben wie etwa die Photographie, Photomontage, Karikatur, Plakat und Illustration. Diese Nebenformen der bildenden Kunst werden durch die Möglichkeit der Vervielfältigung zu scharfen Waffen in der Tagespolitik und in sozialen und kulturellen Auseinandersetzungen. Sie stellen eine hochwertige Bereicherung unserer Zivilisation dar und gehören ins tägliche Leben. In Museen und Kunstveranstaltungen sind sie dagegen deplaziert mit Ausnahme vielleicht von Karikaturen und Illustrationen, wenn es sich um Leistungen handelt, die über den kurzlebigen Zweck hinausweisen. Wenn Photographie und Plakat nun mit der Absicht, eine bestimmte politische Aussage zu unterstreichen, zusammenkomponiert werden, so ist das eine politische Tätigkeit, die, wenn sie gut gemacht sein soll, politisches Wissen voraussetzt. In der Handlung dieses Komponierens kann zudem ein Körnchen bildende Kunst liegen, etwa so, wie beim Decken eines Tisches oder bei der Auswahl der Kleidung. Eine Kunstrichtung daraus machen zu wollen, scheint mir jedoch höchst verfehlt, ja lächerlich. Die politische Photomontage ist gut aufgehoben in den Schaukästen der Jugendbewegung. Unter Ausnützung der Sehtätigkeit der menschlichen Netzhaut werden in der Op art, einer weiteren Richtung in der Szenerie der Restkunst, bestimmte Täuschungen und Effekte erzielt. Das Patent ist alten Ursprungs, wurde aber sicher noch nie so bewußt und raffiniert eingesetzt wie von den Künstlern der gegenwärtigen Szene.

Gefärbte Reliefstäbchen ergeben, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, unterschiedliche Flächenbilder und erwecken im Betrachter ein spielerisches, heiteres Interesse. Künstler wie Vasarely oder Agam sind imstande, mit dieser an sich bescheidenen Möglichkeit ideenreiche, dekorative Werke zu schaffen, die, besonders im Großformat, geeignet sind, Parks und Bauten zu beleben. Tiefe Nachrichten von Menschenglück und Menschenpein können und wollen diese Op art Künstler denn auch gar nicht übermitteln. Zu dünn ist der Faden, der die Op art mit der bildenden Kunst verbindet.

Die Idee, von der die Op art getragen ist, nämlich durch die Verzerrung einfacher Muster das Auge zu irretieren, reduziert diese Kunst letztlich doch auf einen Effekt. Die Künstler müssen diesem Effekt zuliebe auf alle anderen Möglichkeiten verzichten: auf Figuration, malerischen Farbfluß, Struktur, auf Spontaneität und auf das Geschick des Handwerks. Die Op art Künstler geben ihre Werke zumeist in Auftrag, d. h. der Künstler macht einen Entwurf, der von einem Industriebetrieb dann ausgeführt wird, nicht jedoch von einem anderen Künstler. Vasarely schreibt dazu etwa folgendes: Ein Kunstwerk hat drei Eigenschaften zu besitzen: wiederholbar, seriell zu vervielfältigen und ausbreitbar muß es sein. Das heißt im Klartext: das Kunstwerk als Werk, als Original gilt als abgeschafft. Die Vervielfältigung und die Reproduktion können aber nur eine Folge des Originals sein, nicht aber dieses ausschalten. Eine Aufgabe der Reproduktion ist es, die Werte des Originals zu verbreiten, Nachricht zu überbringen, wie dies dort aussieht, wie das dort gemacht ist. Ist das Original kein Werk, sondern nur eine Idee, so kann auch die Vervielfältigung keine Werksqualitäten vermitteln. Sie muß kalt und unmenschlich bleiben. Die im Konzept enthaltenen künstlerisch-dekorativen Werte können aber demgegenüber in der Reproduktion oder der Vervielfältigung sicher zum Tragen kommen.

Im Anschluß daran noch ein paar kurze Bemerkungen zur sogenannten kinetischen Op art. Der Name bildende Kunst sagt bereits aus, daß ein Gebilde gebildet wird. Licht kann man jedoch nicht bilden. Darum kann eine Kunst, die sich in Lichtspielereien ausdrückt, wie es bei der kinetischen Op art der Fall ist, keine bildende Kunst sein. Man kann Licht verursachen, lenken, seine Farben bestimmen, die Dauer des Aufleuchtens, etc. Daraus ergibt sich eine gewisse Möglichkeit schöpferischer Kompositionen, die ebenfalls in den Grundgesetzen der Schönheit verankert sein kann. Das Op-art-Lichtspiel ist eine der bildenden Kunst verwandte Kunstrichtung. Von neu kann auch hier keine Rede sein. Man weiß, was die „alten" Chinesen z. B. mit Feuerwerken, Licht und Wasser schon alles an diesbezüglicher Kunst geleistet haben. Sicher spielte das dirigierte Licht auch bei allen antiken multimedialen Darbietungen eine große Rolle. Trotzdem ist die kinetische Op art mit den großartigen Möglichkeiten, die der elektrische Strom bietet, eine Bereicherung mit

großem Potential. Nachdem es sich, wenn auch um eine visuelle, so doch um keine bildende Kunst handelt, könnte in diesem Rahmen eigentlich auf die Erwähnung der kinetischen Op art verzichtet werden. Aber auch die kinetische Op art versucht den Platz der bildenden Kunst einzunehmen. Daraus ergibt sich nicht nur ein Problem für die bildende Kunst, sondern auch eine Verstümmelung der kinetischen Op art. Warum muß diese denn ausgerechnet ins Museum? Warum nicht ins Theater, im Zirkus, im Stadion, in der Lichtreklame, am Himmel, im Meer, am Gletscher, an den langweiligen Feuermauern der Hochhäuser? Warum dieses pitzelige Hineinkriechen in die kleinen Kunstgalerien? Warum diese wirkungsschwachen Kleinformate? Op art könnte, wenn sie ihre ökologische Nische fände, Großes leisten. Sie hat, was die bildende Kunst oftmals nur selten besitzt, plötzliche Wirkung, die auch ein Massenpublikum beeindrucken kann. Den stillen Tiefgang auf lange Sicht der bildenden Kunst weist sie nicht auf. Sie ist daher aber fehl am Platz in dem für die bildende Kunst geschaffenen System.

In diesem Zusammenhang noch zur sogenannten Kinetik: Daß im Bewegungsablauf mechanisch betriebener Gebilde Schönheit und auch geheimnisvoller Ausdruck liegen können, ist sicherlich eine richtige Erkenntnis. Die Kinetik könnte man als eine Mischung verschiedener Kunstreste bezeichnen. Die Objekte, die bewegt werden, sind, was ihre Formgestaltung betrifft, meist minimal oder gar nicht künstlerisch gestaltet. Die Bewegungsabläufe, die wohl eher mit Tanz als mit Bildhauerei etwas zu tun haben, können mit der sinnvollen Dynamik wirklicher Maschinen sicherlich nicht konkurrieren. Es zeigt sich bei ihr, wie auch bei der Maschinenkunst, daß die Künstler den Technikern gegenüber den kürzeren ziehen, wenn sie sich auf deren Gebiet wagen. Auch, was den ästhetischen Wert dieser Produkte betrifft, sind die Techniker den Künstlern überlegen. Alle diese Restkunstströmungen haben die Tendenz, entweder in die Unkunst zu münden, wie etwa in Tachismus, Materialkunst, Photorealismus, Konstruktivismus, oder aber zu anderen Ausdrucksformen zu werden, wie die Op art und die Kinetik.

Es gibt aber auch eine Fülle von Bestrebungen, die von -vornherein nichts mehr mit bildender Kunst zu tun haben, aber trotzdem im Bereich derselben angesiedelt sein wollen. Das Happening

ist ein neuer Name für etwas, das es in den verschiedensten Formen in jeder menschlichen Gesellschaft schon gab: Die Kriegsvorbereitungen der Stämme vieler Völker, die Rituale der Religionen, die Karnevalsumzüge, Kirchtagsraufereien in den Wirtshäusern, die Lagerfeuer der Wandervögel. Spontan oder wohl vorbereitet verstanden es die Menschen immer, phantasievolle Veranstaltungen zu inszenieren. Was das moderne Happening auszeichnet, ist seine Einmaligkeit. Es wird ja nicht nach althergebrachten Regeln abgewickelt, sondern von Mal zu Mal neu erfunden. Diese anscheinende und vordergründig kühne Originalität ist aber auch der Grund für die relativ geringe Qualität des Happenings. Wenn man es z. B. mit einer afrikanischen Geist-Beschwörungs Veranstaltung vergleicht, wirkt es wie eine hohle Nuß. Ohne religiöse oder sonstige Motivation, ohne gewachsene, ausgefeilte Form bleibt das Happening ein Spektakel: oberflächlich und verspielt. Die Kunstnähe des Happenings liegt zweifellos im Theatralischen, und es ist daher auch weitgehend unverständlich, warum Vertreter dieser Kunstrichtung an den Hochschulen für bildende Kunst unterrichten.

Die Land art geht davon aus, daß das Gestalten der Umgebung eine Kunst darstellt. Das stimmt zweifellos. Der Park von Versailles, die Pyramiden der Ägypter und Mayas, die Silhouette von Manhattan, all das sind ihre Umgebung verändernde Kunstwerke ersten Ranges. Wenn aber die Donau verschmutzt wird, oder eine weitere Müllhalde entsteht, oder ein Tal wird zubetoniert, dann sind dies ebenfalls Veränderungen der Umgebung. Aber es wird wohl niemand behaupten, daß es sich dabei um Kunstwerke handele. Die Veränderung der Landschaft ist dann nur Land art, wenn nach den Gesetzen der Schönheit verändert, wenn Bestehendes raffiniert betont oder genial unterbrochen wird, wenn die Anlage von begabter Meisterhand gediegen ausgeführt und vom Willen zur bildenden Kunst getragen ist. Wenn nun demgegenüber jemand eine Landschaft verändert, indem er einen Baum in eine Plastikfolie hüllt oder einen kilometerlangen Plastikvorhang in einer Wüste aufspannt oder Styroporköpfe im Meer schwimmen läßt, so besitzt das allen einen humoristisch-demonstrativen Charakter. Es führt nämlich in dramatischer Weise vor Augen, wie naturfremd, ja naturfeindlich z. B. Plastik ist. Es zeigt unsere Entfremdung und unseren Instinktverfall in charakteristischer Weise auf. Und kommt zu solchen Veranstaltungen noch viel Jugend mit Gitarren und Schlafsäcken, so gewinnt das ganze einen volksfestartigen Charakter. Sicher eine wunderbare, eine kreative Unterhaltung, ein nützliches Unterfangen, besonders zum ersten Male. Mit bildender Kunst hat das ganze allerdings nichts zu tun, und dessen sind sich die Schöpfer der Land art, glaube ich, auch wohl bewußt. Sie haben offensichtlich nicht die Absicht, ihre Werke auf dem Kunstmarkt zu verkaufen. Ihre Begabung liegt darin, skurrile Einfälle zu entwickeln und zu verwirklichen und nicht darin, Körper nach den Gesetzen der Schönheit durchzuformen.

Nicht ganz so denken jedoch die Theoretiker und die Publizisten und Epigonen der Land art. So war das nicht gemeint! Ausbrechen darf es nicht geben! Der „running fence" muß in ein Museum, und sei es bloß als Photodokumentation. Das „Loch in der Erde" muß zur Documenta von Kassel. Der eingepackte Felsen muß auf die Kulturseite. Warum dieses eifersüchtige Zurückpfeifen jener Leute ins eroberte Lager der bildenden Kunst? Die Antwort ist einfach. Was sollte ein Kunstexperte mit einem „running fence" anfangen, der sich bloß als philosophische Faschingsveranstaltung versteht? Was mit einem plastikverpackten Baum als ökologische Demonstration?

Was mit den politischen Anspielungen der Ölbohrerpersiflage? Nein. Die Land art muß in den Bereich der bildenden Kunst und wenn man sie mit dem Schuhlöffel hineinpressen muß.

Am Rande der Wüste steht am richtig ausgewählten Platz das passende Bauwerk, darauf eine entsprechende Skulptur, bunt bemalt. Davor befindet sich ein Priester und rezitiert zur Musikbegleitung mystische Poesie; das ganze wird von verschiedenfarbigen Flammen kunstvoll ausgeleuchtet. So etwa muß eine antike Multimedia Veranstaltung ausgesehen haben. Verwässerte Ausläufer dieser Allkunst reichen bis zu den politischen Protzveranstaltungen der UdSSR. Diese Idee von Allkunst ist auch eine Grundlage von Oper und Theater. Einzelne Kunstarten separiert zu verwerten, ist dagegen eher ein Merkmal unserer Zeit und insofern neu. „Multimedia" ist sehr alt und die Krönung solcher künstlerischer Entfaltung. Die Absicht dieser Allkunst kann nicht darin bestehen, daß alles wild vermischt wird und die einzelnen Kunstgattungen ihren spezifischen Charakter einbüßen. Die Aufweichung und scheinbare Erweiterung der Grenzen bringt unweigerlich eine Verzerrung und Schwächung der einzelnen Kunstgattungen mit sich. Das wäre so als wollte man Wein „erweitern", indem man Milch hineingießt. Die unterschiedlichen Künste müssen nebeneinander am gleichen Strang ziehen, alles im Dienste der Schönheit und der angestrebten Aussage. Die multimedialen Bemühungen unserer Tage beschäftigen sich fast immer mit den Medien Musik, Film, Tanz, Licht, Geräusch und Wort. Ähnlich wie beim Happening, besteht die Kraft dieser Veranstaltungen in ihrer relativen Originalität, ihrer Einmaligkeit. Die Schwäche des Resultates weist jedoch wiederum auf die gleichen Ursachen.

Die wie auch immer wohlgemeinten Absichten einer begabten Einzelperson können eben kein Resultat ergeben, das sich vergleichen läßt mit einer im Laufe von Jahrhunderten ausgereiften Kunstform, in der gewissermaßen die Begabungen vieler Generationen enthalten sind. Die bildende Kunst bleibt im zeitgenössischen Multimedia fast immer ausgeschlossen. Es scheint als befürchte man, sie könne mit ihrer altehrwürdigen Patina das Fluidum des Avantgardistischen zerstören. Denn selbstverständlich verstehen sich auch die mageren Erben der großen ägyptischen, babylonischen, chinesischen, europäischen, indianischen, afrikanischen Multimediatraditionen als Avantgardisten.

Schließlich mögen noch jene Unternehmungen erwähnt werden, die weder mit bildender noch mit irgend einer anderen Kunst etwas zu tun haben. Man kann sie daher mit Recht als Unkünste bezeichnen. Zum Beispiel die Body art. Ausgestellt werden Intimobjekte der Körperpflege, in Polyester gegossene Unterwäsche und dergleichen. Oder aber, es wird vor einem Publikum der Körper des Artisten gezeigt als „Ausdrucks- und Manipulationsmedium", wie es auf avantgardistisch heißt. Dies trifft auch zu für die sogenannte Decollage. Man zerreißt, hierbei, übermalt oder verbrennt irgend etwas mit dem Ziel, Eigenschaftsvorstellungen von Gegenständen abzubauen und neue ästhetische Erscheinungsmöglichkeiten zu gewinnen. So jedenfalls lautet eine ihrer theoretischen Rechtfertigungen. In der Cachetage werden Schrauben, Stöpsel, Münzen, Knöpfe und dergleichen als Stempel benützt. In der Farbfeldmalerei: Riesige Leinwandbahnen werden angestrichen. Man geht auch dazu über, die Leinwand nicht mehr nur anzustreichen, sondern einzufärben, d. h. der Stoff bleibt Stoff, die Farbe verliert ihre Stofflichkeit. Stoffarben als Kunst also!

Und in der Radiogramm- und Shadowgraphie: Eine lichtempfindliche Platte wird berührt. Was dabei entsteht, sind undefinierbare Schatten, ähnlich wie auf einem mißglückten Photo. Schließlich noch das seit vor allem Duchamp enthusiastisch gefeierte Ready-made: Ein beliebiger Gegenstand wird von einer beliebigen Person zum Kunstwerk erklärt. Und in der Signalkunst werden Verkehrszeichen aufgestellt. . .

Es gibt noch zahlreiche weitere Bestrebungen dieser Art, die alle vorgeben, das Bewußtsein des Menschen zu erweitern und dadurch mitzuhelfen, den Menschen zu emanzipieren. Es war tatsächlich immer ein Aspekt der Kunst, Unbewusstes und Verschüttetes ins Bewußtsein zu heben. Und die Kunst unternahm diese Aufgabe auch zumeist mit künstlerischen Mitteln. Es gibt allerdings viele andere Möglichkeiten, das Bewußtsein zu erweitern, wie beispielsweise Yoga, Singübungen, Dostojewsky lesen und im Roten Meer tauchen. Mit Kunst haben diese Unternehmungen der Bewußtseinserweiterung indes gar nichts zu tun. Es ist nicht die Aufgabe dieser Abhandlung darüber zu polemisieren, ob und inwieweit Signalkunst oder Shadowgraphie das Bewußtsein erweitern vermögen. Fest steht, daß diese Tätigkeit mit bildender Kunst nichts gemein haben und daher im Bereich derselben nur Verwirrung stiften und eher lächerlich wirken.

Was hier skizzierend geschildert wurde, bezieht sich natürlich nur auf die wirklichen Ideen und engagierten Versuche. Darüber hinaus gibt es natürlich eine Unzahl von Werken, die von einer Armee von Scharlatanen geschaffen werden. Es gab im Bereich der bildenden Kunst immer mittelmäßig oder schwach begabte Menschen. Sie stellen in vielen Perioden sogar die Mehrheit. Diese Leute ahmten die Ideen und Eingebungen der wirklichen Künstler nach, verwässerten diese und beschleunigten den Prozeß der Degeneration. Aber diese Pseudokünstler verfügten nichtsdestoweniger zumeist alle über ein beträchtliches handwerkliches Können und auch über jenes sogenannte Zeichentalent, wie es in jeder Schule vielleicht eines von fünfhundert Kindern besitzt. Sie mußten daher stets Fleiß und Geduld aufbringen, denn auch ein mittelmäßiges Bild oder eine schlechte Skulptur verlangen ein konsequentes und ausdauerndes Arbeiten. Ich will damit zum Ausdruck bringen, daß in der Vergangenheit auch an sogenannte mindertalentierte Künstler, ja sogar an Kitschmaler eine ganze Reihe von Forderungen gestellt waren. Diese brachten mit sich, daß auch jene Leute gesiebt und in ihrer Zahl beschränkt waren.

Anders verhält es sich mit den Scharlatanen unserer Tage. Es liegt wohl auf der Hand, daß eine Kunst, die keinen Wertmaßstab an Können mehr anerkennt, solche Leute in Massen anziehen muß. Die meisten Aktionen oder Demonstrationen der Avantgarde nachzuahmen oder zu variieren, erfordert denn auch keine spezifische Begabung, keine handwerkliche Ausbildung und keinen Fleiß. Die einzige Voraussetzung ist dafür eine gehörige Portion Frechheit. Die Produkte der Nachahmer der Rest- und Unkunst überschwemmen daher die meisten Galerien und Museen. Sie dringen langsam, vor allem in den U.S.A., auch ins tägliche Leben ein. Die sogenannte Moderne ist heute die beherrschende und etablierte Richtung in der Kunstszene. Was als Revolution begann, verging somit zum Akademismus unserer Tage. Der Untergrund von einst erwuchs zum Establishment von heute. Die Vertreter und Ideologen dieser Restund Unkunst beherrschen alle wesentlichen Macht- und Schlüsselpositionen des Kulturlebens, soweit es sich um bildende Kunst handelt. Sie gebrauchen ihre Macht mit der Konsequenz eifersüchtiger Fanatiker. Sie sitzen an den Schaltstellen, in allen wichtigen Kulturzeitschriften und großen Tageszeitungen. Sie beraten die Medienintendanten, und sie stellen vor allem alle wichtigen Museumsdirektoren. An den Kunstakademien werden die Studenten, die lernen sollten, wie man eine Hand zum Beispiel zeichnet, zuvörderst darin unterrichtet, wie man eine Badewanne in einer Galerie aufstellt. „Fortschrittliche" Lehrer lassen die Kinder in der Zeichenstunde sinnlos Farbe herumschütten oder Journale zerschneiden und aufkleben oder rostige Nägel in Schachteln legen oder irgend etwas anderes „Progressives" tun. Kreativ sein ist alles ... so lautet die einstmals gut gemeinte, mittlerweile aber zu Tode geredete Devise, der sich die Avantgarde der Mittelmäßigkeit allenorts bedient. Nur wie man einen Apfel abmalt, das lernen die unglücklichen Kinder nicht. Das heißt, unglücklich sind vor allem jene mit Zeichentalent Begabten, man könnte fast sagen, Belasteten.

Für die anderen Kinder in einer solchen „fortschrittlichen" Künstunterrichtsstunde ist es eben eine sinnlose, aber leichte Stunde, und sie überwinden gern die Bedenken, die jeder normale Mensch empfindet, wenn er eine Tätigkeit ausüben soll, die keinen rechten Sinn hat. Die nunmehr schon vierzig Jahre andauernde Gehirnwäsche hat unterdessen bewirkt, daß immer breitere Schichten, vor allem in Amerika, sich gewissermaßen damit abfinden, daß es keine bildende Kunst mehr gibt; und anstatt dessen jene mehr oder weniger interessanten Spielereien.

Ausgesprochene Feinde der modernen Kunst sind die Kinder im Alter von vier bis zwölf Jahren: „Was soll das sein?" „Das ist Krixelkraxel!" „Der kann ja gar nicht malen!" usw., sind typische Kinderkommentare, die man in Ausstellungen so mancher Avantgarde zu hören bekommt. Woran liegt diese negative Einstellung der Kinder zur Avantgardekunst? Sind die Kinder etwa verbildet durch die immer noch reichlich angebotene figurative Kitschmalerei wie etwa in Bilderbüchern?

Ich habe die Beobachtung gemacht, daß auch die eigenen Söhne und Töchter moderner Künstler zunächst eine meist verschwiegene Verständnislosigkeit den Arbeiten der Eltern entgegenbringen. Im Laufe der Zeit verwandelt sich dieser Widerstand zuweilen auch in Bewunderung, besonders, wenn der Papa oder die Mama erfolgreich ist. Für die primäre und prinzipielle Ablehnung der Kinder gegenüber der Modernen sehe ich eine tiefsitzende Ursache: Kinder sind ihrem Wesen nach Positivisten. Sie erleben ihr eigenes Wachstum als Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten, vom Unselbständigen zum relativ Selbständigen. Aus diesem Verständnis ergibt sich ein Maßstab, eine Art Wertskala. Wenn nun das Kleinkind als erste malerische Tätigkeit mit dem Bleistift planlos auf dem Papier herumfährt oder mit Farbe herumwühlt, so bedeutet das darauffolgende Stadium der Strichmännchen für das Kind einen beglückenden Fortschritt. Diese Entwicklung geht dann immer weiter aufwärts. Es kommt zu reich gestalteten Kompositionen mit erstaunlichem, erzählerischem Inhalt, bis in einem gewissen Alter die eigene Phantasie vom Imitieren der Erwachsenenwelt verdrängt wird. Damit geht es meistens mit der künstlerischen Laufbahn des jungen Menschen zu Ende. Das Nachahmen verliert dann rasch seine Faszination, zumal sich meist auch bald die Erkenntnis des eigenen Unvermögens einstellt.

Die wenigen jungen Menschen, die diese schwierige Phase des Übergangs überwinden, haben damit den ersten Schritt zu einer Künstlerlaufbahn getan. Wird das malende Kind nun mit abstrakter Malerei konfrontiert, so muß es darin seine eigene Babyzeit erkennen. Will man einem Kind zudem noch erklären, daß die dynamische Gestik der  Hand, oder das zufällige Rinnen der Farbe, im Grunde wertvoller und interessanter sind als die Darstellung von Gegenständen, so stellt man damit die gesamte Entwicklung des Kindes selbst in Frage. Dies bedeutet aber auch eine Art der Verneinung des Menschen schlechthin und seiner geistigen Entwicklung. Die Krixelkraxel- und Zufallskunst beleidigt die Kinder.

Und wie reagiert das erwachsene Publikum auf die sogenannte moderne Kunst? Die wenig gebildeten Schichten kümmern sich nicht sehr um kulturelle Belange. Bei zufälliger Konfrontation mit Werken der Avantgarde ist die Reaktion Lachen, Witze reißen und Hilflosigkeit. Bei der sogenannten kulturellen Mittelschicht ist die Ablehnung der sogenannten modernen Kunst meist radikal, impulsiv und von dem Gefühl getragen, zum besten gehalten zu werden. Es ist die sogenannte Bildungselite, die neutral, oder vorsichtig positiv reagiert. Für diese Einstellung gibt es, wie mir scheint, drei wesentliche Motivationen: Man will unter keinen Umständen rückständig sein oder wirken. Man will um nichts in der Welt zu alt sein, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können. Zudem: Man kennt Beispiele aus der Kunstgeschichte, wie zahlreiche Genies von ihren Zeitgenossen mißverstanden wurden. Man will nicht, daß ein van Gogh des zwanzigsten Jahrhunderts verhungert. Dieser van Gogh-Bonus ist eine der Hauptstützen, die die zähe Langlebigkeit der sogenannten modernen Kunst ermöglicht. Die jahrzehntelange Gehirnwäsche durch die Kunstexperten zeigt langsam ihre Wirkung. Der Mensch der Industriegesellschaft verzichtet verhältnismäßig leicht auf die bildende Kunst. Ihr Konsum ist anstrengend, wie das bei Werten immer der Fall ist, und das tiefsitzende Bedürfnis des Menschen nach Augenweide wird teilweise durch Photographie und Film abgedeckt. So wenig die Menschheit ohne bildende Kunst auskommen kann, der einzelne Mensch kann es, ja, er empfindet es sogar als eine gewisse Erleichterung von einer süßen, aber schweren Last, wenn man ihm anstatt bildender Kunst eine lockere Spielerei vorsetzt.

 

Diese drei Motivationen spielen heute auch schon bei manchen Kulturmittelschichten und Jugendlichen eine Rolle besonders in den U.S.A. So groß der Widerstand des Publikums gegen die Moderne ist, so sehr es die Menschen auch lieben, sich an althergebrachten Vorstellungen zu orientieren, die sogenannte moderne Kunst ist eindeutig im Vormarsch. Die Bastionen der vielgeliebten alten bildenden Kunst werden pausenlos berannt.

Kunst ist in den Bauten und Gegenständen unserer Zeit so gut wie abwesend, nicht mehr vorhanden. Ein Stuhl besitzt formal, was für seine Funktion notwendig ist, und nicht mehr. Fenster und Türen sind rechteckige Löcher, die auf- und zugehen, nicht mehr. Ein Schrank versteckt schamvoll seine mit Heftklammern zusammengehaltenen Hartfaserplatten in den Mauernischen, während seine Kunststofftüren eine undurchdringliche eisige Perfektion ausstrahlen. Kein Zierrat verrät menschliche Gefühle, kein mißglückter Hobelstoß menschliche Schwäche.

Seit der Mensch Dinge erzeugt, ist er um Perfektion bemüht, d. h. eine Kante gerade, eine Flächevollkommen glatt, eine Kugel total rund zu machen etc. Diese Perfektion war weitgehend unerreichbar, solange die Dinge mit Handwerkzeug hergestellt wurden. Man könnte gar vermuten, daß die Verzierungen eigentlich nur dazu dienten, um von diesen Mängeln abzulenken. Maschinen sind nun imstande, perfekte Dinge zu erzeugen. Endlich ist es erreicht! Fort mit dem unnützen Tand und Zierrat. Nieder mit dem Ornament. Es lebe die kühle, sachliche, funktionelle Perfektion. Was aber geschieht? Der Jubel über den Fortschritt in der Sachlichkeit, der Perfektion war noch nicht verklungen, die neuen Möbel, Geräte und Bauten waren noch kaum in die Randbezirke vorgedrungen, da begannen die Leute wie besessen nach alten, romantischen Häusern, nach Jugendstilvasen, nach Biedermeierkästen usw. zu suchen. Die Suche nach dem Alten blieb kein Privileg einer vielleicht überzüchteten Kulturschicht. Sie wurde zu einer Massenbewegung. Warum wohl? Die Perfektion war nur lustig, solange sie unerreichbar war. Realität geworden, stellt sie sich als das Langweiligste heraus, das man sich vorstellen kann. Der Mensch verlangt nämlich danach die Spuren der Bruderhand zu sehen. Er freut sich über die meisterhaften Hammerschläge der Schmiedearbeit. Er bewundert die sinnvollen Verzinkungen der Holzverbindungen. Er freut sich sogar über einen mißglückten Hobelstoß. Vor allem aber kann er sein ganzes Leben lang die Stuckatur an der Decke, die Schnitzerei am Tischbein, den „überflüssigen Zierrat" betrachten. Dieser berichtet von Blumen und Vögeln, von Rhythmus und Harmonie, er regt die Phantasie an. Die Kunststoffplatte kann nie kitschig werden, sie ist fehlerlos und sie sagt dem Menschen absolut nichts.

Die schlimmsten Verheerungen hat die Moderne wohl in der Architektur angerichtet. Die Architekten des zwanzigsten Jahrhunderts brachten es absurderweise fertig, sich selbst überflüssig zu machen. Es werden zweifellos auch heute noch vereinzelt Bauwerke von hohem künstlerischem Wert geschaffen. Aber die Gestaltung und menschenwürdige Form unserer Städte hängt insgesamt nicht von dem einen oder anderen gelungenen Bauwerk ab, sondern von den allverbreiteten riesigen Wohnsilos, die den Erdball überwuchern. Diese Unbauten sind das Resultat der erfüllten Forderungen der Moderne: Fort mit überflüssigem Zierrat, klare Formen! Sachlich funktional. Was dabei herauskommt, steht heute millionenfach in Beton gegossen vor uns. Die psychologischen und sozialen negativen Auswirkungen dieser kunstlosen Bauweise sind inzwischen weithin bekannt geworden. Man sucht heute hektisch, aber erfolglos, nach besseren Lösungen. Es kann tatsächlich nur eine befriedigende Lösung geben: Die bildende Kunst war immer ein untrennbarer Bestandteil der Architektur. Ja, man kann sagen, daß der wichtigste Bereich der bildenden Kunst immer die Architektur darstellte. Bauten ohne Kunst, d. h. ohne die abwechslungsreiche Belebung der Mauern, sind für den menschlichen Gebrauch auf die Dauer ungeeignet. Die entsetzlichen Folgen des Ausschaltens der bildenden Kunst in der Bautätigkeit können nur behoben werden durch das Wiedereinsetzen der bildenden Kunst. Moderne Bauten sind nur dann schön, wenn sie die Ideale der Moderne — nur sachlich, nur funktionell sein — im Grunde genommen verraten. Es geht dabei nun keineswegs darum, etwa die Stuckaturen der Vergangenheit zu wiederholen, sondern einfach um die ästhetische Gestaltung, die über das vordergründig Funktionale hinausgeht: Romantisch, pathetisch, theatralisch, andächtig, kurz: schön. In Wirklichkeit haben diese ästhetischen Eigenschaften ebenfalls eine Funktion, und zeitweise sogar eine sehr wichtige, wesentliche.

In der Gebrauchskunst des täglichen Lebens mußte die Moderne ebenfalls versagen. Man kann ohne Zierde keine Zierschrift entwickeln und keinen Teller bemalen. Die Kaufleute unterdessen, die das Publikum, den Menschen, konfrontieren, wissen darum und so kommt es, daß nach wie vor das alte Zwiebelmuster auf den Tellern die Auslagen beherrscht. So kommt es auch vor, dass so manche angesehene Kunstzeitschrift zwar nie über figurative Malerei berichtet, (nein, dazu gibt man sich ja modern), aber ihr Titelblatt stets mit Photos oder figurativer Malerei oder Graphik ausgestaltet. Das Nichtvorhandensein eines die Gegenstände des Alltags kreierenden Kunststils könnte allein schon als Beweis für eine tiefe Krise in der Malerei gelten. Als einzige ist es die kunstverdächtige Pop art, die in bestimmten begrenzten Bereichen formgebend wirkte. Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Wieso nimmt kein Museumsbesucher jenen Autoreifen und wirft ihn in den Mülleimer? Wieso nimmt keiner jenen Besen und beginnt damit zu kehren? Warum sagt niemand laut und deutlich, eine weiße Leinwand sei kein Bild?

 

VI.

Die Wurzel für diese ganze krumme Entwicklung ist sicherlich auch in der geistigen Gesamtsituation der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zu suchen. Es herrschte damals bekanntlich in der gesamten Industriegesellschaft sowohl diesseits als auch jenseits des sogenannten Eisernen Vorhangs eine euphorische Aufbruchstimmung, die wohl ihre Krönung in der Eroberung des Weltalls fand. Die stürmische Entwicklung von Technik, Wissenschaft und Forschung verursachte bei den Zeitgenossen einen geradezu religiösen Fortschrittsglauben. Nichts schien unmöglich, nichts schien die Menschheit in ihrem stürmischen Marsch in Richtung auf das immer wieder versprochene Paradies aufhalten zu können. Alles Alte, Traditionelle schien dabei hinderlich, ja schädlich. Das Wort konservativ verkam in breiten Kreisen zu einem Schimpfwort. Das Wort Fortschritt wurde zum Inbegriff alles Guten, ein Wertmaß an sich. Die Künstler wollten da verständlicherweise nicht abseits stehen und versuchten, es an Geschwindigkeit den Technikern und Chemikern und sonstigen Wissenschaftlern gleichzutun. Ich entsinne mich denn auch an folgende Bemerkung eines befreundeten Kunstkritikers: „Im Zeitalter des Raumfluges kann man nicht mehr Männchen und Blümchen malen." Auf meine Frage: „Warum nicht?" bekam ich allerdings keine befriedigende Antwort.

Heute ist, was die Segnungen des technischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts betrifft, bereits größte Skepsis eingetreten. Man fragt sich, wie der Mensch das alles aushalten soll, wie die Erdkugel das alles aushallen soll, und man fragt sich, wo denn das erhoffte und verheißene Paradies nun bleibt. Dieses nachdenkliche Einhalten hat alle Bereiche der menschlichen Entfaltung erfaßt, mit Ausnahme von dem der bildenden Kunst. Die Künstler haben die anbrechende Stunde der Wahrheit bis jetzt verschlafen. Hier wird weiter blind drauflosentwickelt, hier herrscht wieder der Fortschritt, das Neue, hier herrscht kritiklose Narrenfreiheit. Die Künstler der fünfziger und sechziger Jahre, die hinter den Erfolgen der Astronauten herhetzen, übersahen auch die Tatsache, daß die Techniker, die Physiker, die Chemiker, die Mediziner alle ihre Erkenntnisse und Erfindungen auf den Errungenschaften der Vergangenheit aufbauten.

Diese bildenden Künstler der Avantgarde jedoch mußten, um etwas wirklich Neues zu schaffen, mit der Vergangenheit brechen. Da im Rahmen der bildenden Kunst folgerichtig nur Varianten, aber nichts wirklich Neues möglich ist, mußten sie die bildende Kunst verlassen. Die meisten Künstler entschieden sich dabei für einen Kompromiss, ein wenig vom Neuen, ein wenig von der alten bildenden Kunst. Die sogenannte Avantgarde entschied sich eindeutig für das kunstlose Neue und sie riss damit das Szepter des Fortschritts an sich. Sie fand eine mächtige Hilfe in einer Kraft, die früher nicht existierte und die ich hier als die „Theoretiker" bezeichnen möchte. Diese Kunsttheoretiker sind vielleicht die Hauptursache für die Ausbreitung und erstaunliche Zähigkeit und Zählebigkeit der Unkunst. Wer sind diese Leute? Wo kommen sie her?

In der Vergangenheit waren die Käufer und die Auftraggeber von Kunstwerken häufig Laien in Bezug auf die bildende Kunst. Medizinmänner und Priester, später Kirchenfürsten, Adelige und das Großbürgertum waren oft Leute mit hohem Kunstverständnis. Beruflich aber waren sie mit anderen Dingen beschäftigt. Sie entfalteten ihren Ehrgeiz und ihre Kreativität in anderen Lebensbereichen. Das brachte es mit sich, daß die Künstler in der Entfaltung ihrer Kunst im wesentlichen unbehelligt blieben, wenn auch vielleicht der persönliche Geschmack des einen oder anderen Auftraggebers eine Rolle gespielt haben mag. Wie und was im einzelnen gemalt, wie gebildhauert wurde, entschieden im wesentlichen die Maler und Bildhauer, die sich natürlich auch am jeweiligen Zeitgeist orientierten, den sie ja selbst mitschufen. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde der Staat zum wichtigsten Auftraggeber. Die kommunistischen Staaten verfahren so in eindeutiger Weise, die kapitalistischen teilweise direkt, teilweise indirekt. Die meisten Großaufträge in Westeuropa werden vom Staat vergeben. Aber auch bei Aufträgen von privater Hand, wie sie in den U.S.A. häufig sind, ist der dirigistische Einfluß des Staates größer als es den Anschein hat. Banken, Versicherungsgesellschaften, Großindustrieunternehmungen usw. vergeben ihre Aufträge nämlich nicht nach dem persönlichen Geschmack eines kunstverständigen Direktors, sondern man richtet sich in der Auswahl des Künstlers danach, wie er in Fachkreisen gewertet wird. Die Fachkreise bewerten ebenfalls nicht nach eigenem Geschmack, sondern danach, ob die Werke eines Künstlers von wichtigen Museen angekauft werden, ob er auf die diversen Biennalen, Triennalen, Documentas etc. geschickt wird. Und das sind natürlich alles vom Staate getragene Körperschaften und Unternehmungen. Alle wichtigen Veranstaltungen in Sachen bildender Kunst sind in unserer Zeit entweder direkt oder indirekt über Steuererleichterungen und Zuschüsse vom Staat finanziert. Das gilt vor allem für Westeuropa und, in etwas abgeschwächter Form, auch für die U.S.A. Über das Prestige der Museen und Großausstellungen gewinnt der Staat auch großen Einfluß auf die Privatgalerien.

Wie bewältigt nun der Staat diese verantwortungsvolle und schwierige Aufgabe? Vermittels einer speziell an dieser Aufgabe gewachsenen neuen Gruppe, den Kunstexperten, man könnte sie auch die Kunstpäpste nennen. Das sind die Direktoren der Museen, die Vorsitzenden in den beratenden Kunstgremien, die Organisatoren staatlich finanzierter Großveranstaltungen. Diese Personen sind hauptberuflich mit bildender Kunst beschäftigt und haben eine entsprechende Ausbildung genossen. Ihnen kann es daher natürlich nicht genügen, die von den Künstlern gebrachten Werke aufzuhängen oder anzukaufen. Sie wollen sich verständlicherweise unaufhörlich kreativ entfalten, sie wollen Zusammenhänge aufdecken, Theorien entwickeln, Tendenzen vorantreiben, lenkend eingreifen. Sie wollen kulturelle Großtaten vollbringen. Was aber soll nun eine solche Person mit einer bildenden Kunst anfangen, die im Grunde sich immer gleich bleibt und ihre Variationen langsam, im Laufe von Jahrhunderten, entfaltet? Was gibt es über ein schönes Bild viel zu sagen, was zu schreiben? Welche Theorie kann man darüber aushecken? Man kann sagen, dieses Bild ist schön. Damit wäre die Tätigkeit des Kunstexperten beendet.

Was wunder, daß die Kunstpäpste zu den Einpeitschern des Neuen um jeden Preis wurden. Es gab seit Ende des Zweiten Weltkriegs in der westlichen Welt nur ein Thema für Großveranstaltungen in Sachen bildende Kunst: Was ist neu? Es fragt kaum einer: Was ist gut? Neues mußte her, unter allen Umständen, um jeden Preis. Eifersüchtig aufeinanderschielend, hetzen die Kunstexperten der Avantgarde, die sie selbst jagen, nach. Jeder will der erste sein. Die Ismen werden aus dem Boden gestampft wie die Wohnsilos und die Künstler halten tapfer mit. Was soll man von einem jungen Maler oder Bildhauer auch anders erwarten? Die panische Angst im Nacken, er könnte hinter der Entwicklung zurückbleiben, begreift er bald, daß der Zugang zu den Logenplätzen der Kunstarena nur mit etwas Neuem zu schaffen ist. Dazu kommt noch hinzu, daß in dieser Hetzjagd für jedermann tatsächlich eine reale Chance vorhanden ist, mit etwas Glück und Frechheit in jungen Jahren und praktisch ohne eine Leistung erbracht zu haben zu Ruhm und Reichtum zu gelangen. Die erste Geige in dieser Runde spielen zweifellos die Theoretiker. Der amerikanische Schriftsteller Wolfe schildert in anschaulicher Weise die Kunstszene in den U.S.A. Er kommt zu dem Schluß, daß die Künstler die Theorien der Theoretiker illustrieren.

Einen weiteren Faktor zur künstlichen Aufrechterhaltung des großen Marsches in die Sackgasse der Moderne um jeden Preis bilden die Kunstkritiker. Es gibt wohl in keinem anderen Berufszweig ein so großes Gefalle in Bezug auf Bildung und Kompetenz wie bei den Kunstkritikern. Das reicht von Akademikern, die Fachbücher verfassen und an Universitäten unterrichten, über gescheiterte Maler bis zu kleinen Mädchen, die zufällig mit einem Redakteur befreundet sind. Die Akademiker sind ähnlich motiviert wie die Kunstpäpste. Sie wollen schreiben, erklären, entdecken. Für sie ist die sich überpurzelnde Entwicklung der Unkunst, was für den Fisch das Wasser ist. Sie beherrschen die Kulturspalten der großen Zeitungen und halten damit eine sehr machtvolle Position inne. In den U.S.A. sind Kritiker oft große Kunstsammler. Der New Yorker Galerist schildert die Situation folgendermaßen: „Wichtige Kritiker werden in New York nicht verschämt mit kleinen Skizzen oder Kupferstichen bestochen, wie das in Europa üblich sein mag. Hier werden ganze Autofuhren von Bildern kostenlos übergeben. Der Kritiker wird zum Sammler gemacht und seine Kritik wird zur wertsteigernden Lobrede auf die eigene Sammlung."

Die gescheiterten Maler sind nicht selten tiefgekränkte, frustierte Menschen. Sie bringen der großen Kunst, die von ihnen nichts wissen will, wohl einen komplexen Haß entgegen und verfolgen sie, wo und wie sie nur können. Die Malerkritiker stellen einen ziemlich großen Prozentsatz unter den Kunstkritikern dar und sind, da sie ja eine Ahnung vom Subjekt haben, oft die Antagonisten der bildenden Kunst. Und die kleinen Mädchen schreiben ab, was andere geschrieben haben, natürlich noch extremer und noch aggressiver. Sie sind jung und glauben, progressiv sein zu müssen. Man kann als eine gezielt übertriebene Faustregel sagen, je ungebildeter der Kritiker, umso bedenkenloser und undifferenzierter seine Kritik. Dies ist im wesentlichen die Position der Kunstkritik. Es gibt natürlich viele Ausnahmen, die aber die allgemeine Tendenz nicht wesentlich beeinflussen können.

Eine nicht geringe Schuld an der künstlichen Verlängerung der Krisensituation tragen die Künstler selbst. Ein großer Teil der zeitgenössischen Künstler betreibt nach wie vor eine an alten Kriterien orientierte bildende Kunst. Diese Personen sind von wichtigen Ereignissen und Veranstaltungen im Rahmen der bildenden Kunst oftmals ausgeschlossen, auch wenn sie einen oft bemerkenswerten Rückhalt im Publikum haben. Diese Künstler haben sich offensichtlich damit abgefunden, von dem ihnen zustehenden Platz in Gesellschaft, Wirtschaft und Geistesleben langsam verdrängt zu werden. Sie malen meist still vor sich hin und leben von einem mehr oder weniger großen Kreis von Liebhabern. Auch die Starken unter ihnen, mit oft hohem internationalem Bekanntheitsgrad, haben es bislang versäumt, sich der Öffentlichkeit zu stellen. Der Grund dafür mag eine auch bei diesen Künstlern weitverbreitete Unsicherheit in Bezug auf die sogenannte moderne Kunst sein. Die Grenzen der bildenden Kunst sind ja tatsächlich sehr elastisch und sie müssen es auch sein. Wenn die allgemeine Tendenz eindeutig in die Richtung der Unkunst geht, so kommt es im Einzelnen doch immer wieder zu einer Art Aufflackern von Kunstresten, das oft erstaunliche Resultate bringt. Aus diesem Grunde ist es schwer, den Wert der einzelnen Erscheinungen jeweils abzuschätzen. Künstler wollen im allgemeinen nicht intolerant sein, und so kommt es zu einer eher neutralen Haltung dieser Gruppen in Bezug auf die Unternehmungen der sogenannten Avantgarde.

Eine weitere, vielleicht die zahlenmäßig größte Gruppe sind jene Personenkreise von Künstlern, die sich mit der Restkunst in ihren verschiedenen Stadien beschäftigen. Diese oftmals begabten Menschen schwimmen im Strom mit, wobei ihnen ihre eigene Begabung nicht selten sogar im Wege steht. Auf die Avantgarde blicken sie meist mit einer Mischung aus Bewunderung und tolerantem Unverständnis. Die Verzerrung der bildenden Kunst hat aber auch einen neuen Typus von Künstler hervorgebracht beziehungsweise angezogen, die Avantgardisten. Das sind nicht mehr jene harmlosen Samtjackenträger der Vergangenheit. Das sind harte, oft zynische Intellektuelle, die mit wacher Aufmerksamkeit die Tendenzen und Strömungen verfolgen. Das sind die Menschen, die gehetzt Ausschau halten nach allem, was noch nicht da war. . . Das sind die Konstrukteure jener Hirngespinste, die mit griffigen Namen versehen als Ismen durch die Museen und Galerien geistern. Es handelt sich um eine kleine, aber sehr aktive, kämpferische Gruppe. Zusammen mit den Kunsttheoretikern jagen sie, sich gegenseitig vorantreibend, japsend hinter dem Neuen her. Soweit die Position der Künstler.

Dieses sind im wesentlichen jene Kräfte, welches jenes unglückliche Gebilde Restkunst und jenes totgeborene Kind Unkunst unermüdlich weiterschleppen. Es ist eine feste Interessengemeinschaft mit weitverzweigten Verbindungen und Beziehungen. Sie sprechen einen der Allgemeinheit unverständlichen Kauderwelsch, um einzuschüchtern, und umgeben sich mit dem geheimnisvollen Fluidum antiker Priester. Was sich dahinter verbirgt, ist aber meist Geltungssucht, Langeweile, Geschäftsinteresse und blanker Zynismus. Alle angeführten Beispiele tendieren letztlich hin zu einer Ideenkunst: Allein das Wort Ideenkunst zeigt die Absurdität der gesamten Entwicklung auf. Es gibt eine Kunstidee, aber in Bezug auf bildende Kunst kann es nie eine Ideenkunst geben, weil eine Idee kein dinglich geformtes Gebilde darstellt.

Wichtig ist im Hauptstrom nicht das Resultat, das ausgestellte Objekt, sondern die Idee, für die es steht. Da diese Objekte, soweit nicht von Restqualitäten der bildenden Kunst belastet, so gut wie wertlos sind, könnte man ohne weiteres auf sie verzichten und die benannten Ideen verbal verbreiten. Was würde aber zum Beispiel geschehen, wenn jemand verkündetet: Die Demonstrationskunst versteht sich als erlebnishafte Trainingspraxis für bewußtes Erfahrungs- und Tätigkeitstraining. Dabei wird ein besonderes Handlungsangebot bereitgestellt, das im Geschehnisablauf ein genaues Kennenlernen der Bedingungskausalität vermittelt. (Zitat eines Kunstexperten). Man würde selbstverständlich die harten Maßstäbe von Wissenschaft und Philosophie an dieser Art von Verkündigungen anlegen, und von den Ideen bliebe meist nicht viel übrig. Es scheint, daß es eben jene an sich wertlosen Objekte sind, hinter welchen sich diese oft geradezu lächerlichen Ideen verschanzen. Der banalste Gegenstand wird so zu einem Geheimnisträger und die absurde Idee zu seiner Rechtfertigung. Das Konstruieren von mehr oder weniger einleuchtenden Theorien wurde zum beliebten Sport der Theoretiker. Die späten siebziger Jahre brachten eine Art jeder gegen jeden mit sich. Erlaubt ist dabei alles, außer traditioneller Malerei. „Es braucht keinen Verlust zu bedeuten, daß die Künstler damit von den Kunstismen Abschied genommen haben. Doch bringt der weitgehende Verzicht auf die Möglichkeit des Zuordnens auch eine Verminderung der Vergleichbarkeit und des verbindlichen Bewertens mit sich. Der um Objektivität bemühten Bewertung entziehen sich zum Beispiel Sachen oder Vorgänge, die als Kunstwerke akzeptiert werden sollen, nur, weil sie irgend jemand dazu erklärt hat." (Zitat)

 

VII.

Zusammenfassend kann man das Gesagte in folgende Phasen einteilen: l. Die Überwindung des von der Pseudo-Ästhetik belasteten Akademismus des 19 Jahrhunderts durch Impressionismus und Fauvismus. Die Künstler beginnen, sich über die Malerei den Kopf zu zerbrechen. Es kommt zu zahlreichen Gruppierungen mit gemeinsam künstlerischem Konzept. 2. Die Malerei wird von den Kubisten und den Futuristen an die Grenze der Figuration getrieben. Die Kunst wird von den Zeitgenossen vielfach abgelehnt und die Maler nehmen nicht selten eine kämpferisch, ideologisch motivierte Haltung ein. Hohe Qualität bleibt noch immer die Voraussetzung, aber das Hauptgewicht liegt bereits in einer vermeintlichen stilistischen Erneuerung. 3. Der Schock des Ersten Weltkrieges brachte zweierlei mit sich: a) eine teils sozial, teils surreal orientierte figurative Malerei und b) den Beginn des systematischen Abbauens der Malerei durch Dadaisten, Konstruktivisten und Konkrete Kunst. In dieser Phase ist bereits das bewußte Suchen nach immer neuen Varianten um des Neuen willens zu beobachten und als Folge davon eine bemerkenswerte Temposteigerung im Kommen und Gehen der diversen Ismen. 4. Der allgemeine Fortschrittsglaube nach dem Zweiten Weltkrieg verursacht eine weltweite Ausbreitung der gegenstandslosen Malerei. Die letzten Reste der charakteristischen Merkmale der bildenden Kunst werden systematisch eliminiert. Die bildnerischen Qualitäten verlieren ihre Bedeutung. Die Malerei wird immer mehr zum intellektuellen Spiel von Theoretikern. Geschäftsinteresse und intellektueller Ehrgeiz verlängern künstlich den Krisenzustand. 5. Letzte Phase: die diversen Ismen spalten sich immer mehr auf und verlieren jedweden ideologischen Gehalt. Minigruppen und Einzelgänger genießen absolute Narrenfreiheit. Diese Entwicklung zeitigt auch eine Folge: Intellektuelle Oberschichten beginnen, das Verschwinden der bildenden Kunst zu akzeptieren.

Die einzelnen Phasen sind durch zahlreiche Überlappungen und Wiederholungen gekennzeichnet. Viele Ausnahmen und Nebenzweige gestalten das Gesamtbild kompliziert und weitgehend unübersichtlich. Der Hauptstrom der Entwicklung aber geht im wesentlichen in diesen fünf Etappen vor sich und landete in dem zu Beginn dieser Schrift geschilderten Museum mit Besen und Autoreifen. Dies würde alles nichts ausmachen, werden doch noch viel größere Geldsummen für noch viel unnützere, ja gefährliche Dinge verschwendet, wird doch noch viel mehr Zeit für noch viel dümmere Beschäftigungen verplempert. Viele dieser Versuche könnten aufgrund Gehirnakrobatik und spielerischen, oft kunstnahen Tendeleien sogar sympathisch und nützlich sein. Aber leider will dieser Ideenmarkt unbedingt den Platz der bildenden Kunst einnehmen. Die Vertreter und Organisatoren der sogenannten Moderne wollen keineswegs als nur die Nachfolger von Till Eulenspiegel für wenig Geld ein wenig Spaß machen, nicht Faschingsfeste und Karnevalveranstaltungen intellektuell aufwerten. Ein rostiges Stück Eisen in der Schule auf den Tisch legen, die Kinder auf die Schönheit des Rostes aufmerksam machen, um das Eisen dann wegzuwerfen, genügt ihnen nicht. Sie wollen dieses zum „Objekt trouve" hochstilisierte Unding am liebsten im Louvre anstelle der „Mona Lisa" hängen sehen. Sie wollen unter keinen Umständen den richtigen, den ihnen zustehenden Platz in der Zivilisation suchen und finden. Sie verstecken sich hinter der bildenden Kunst, der die Menschen noch immer eine berechtigte Erfurcht entgegenbringen, um sich in diesem diffusen, aber warmen Licht zu erwärmen.

Manche Einpeitscher der sogenannten modernen Kunst verfolgen die alte bildende Kunst und sogar deren Überreste mit einer geradezu unglaublichen Ablehnung. Die meisten Museen für moderne Kunst lehnen es prinzipiell ab, Ausstellungen zeitgenössischer bildender, figurativer Malerei zu zeigen. Fast alle Kunstzeitschriften lehnen es ab, über diese Art Malerei zu berichten. Fernsehen und Rundfunk, die auf ein breites Publikum Rücksicht nehmen müssen, beziehen meist eine neutrale Position. Aber auch hier ist die bereits fest etablierte Avantgarde kräftig im Vormarsch.

Warum dieses verbissene und verbiesterte Verteidigen der Grenzen des Begriffes bildende Kunst? Warum dieses eifersüchtige Beanspruchen eines bestimmten Lebensraumes für die bildende Kunst?

Was hier sich abzeichnet, ist nicht das Wachsen von neuen Zweigen und Ästen an einem alten Stamm. Hier wird ein Obstbaum, der seit zehntausend Jahren die herrlichsten Früchte trug, von Unkraut und Schmarotzerpflanzen erstickt. Die überzogene Erweiterung der ohnehin elastischen Grenzen eines Begriffes läuft auf die Auflösung derselben heraus, die Auflösung der Grenzen auf die Eliminierung des Begriffes. In der Verteidigung des Lebensraumes der bildenden Kunst geht es nicht nur um das Kulturbudget. Es geht vor allem um den Platz in den Herzen und Köpfen der Menschen. Die „Mona Lisa" und das Objet trouve könnten gut nebeneinander bestehen, aber nicht beide als bildende Kunst. Eines von beiden muß in dieser Beziehung das Falsche sein. Es geht hier nicht darum, Wert oder Unwert von diversen Ideen oder kunstnahen Tätigkeiten zu qualifizieren. Es geht auch nicht darum herauszufinden, ob und in welchen Lebensbereichen diese Erscheinungen angesiedelt sein sollen. Darüber müssten sich schon die Erfinder dieser Ideen den Kopf zerbrechen. Aus dem Bereich der bildenden Kunst gehört hinaus alles, was nicht oder kaum in die elastischen Grenzen dieses Begriffes zu zwingen ist. Hinaus gehört alles, was keine oder fast keine charakteristischen Merkmale dieses alten Begriffes aufweist, die das sind: l. Ein Gegenstand  von einem mit künstlerischer Begabung und handwerklichem Können ausgestatteten Menschen mit künstlerischer Absicht hergestellt. 2. dekorativ im Sinne einer das Unterbewusstsein ansprechenden Augenweide oder Phantasie und Verstand anregende Figuration, die ebenfalls dekorative Qualität haben muß; 3. eine gewisse Vielfalt und Dichte des Werkes als Voraussetzung für seine Wirksamkeit.

Gemeinsam ist allen geschilderten modernistischen Bestrebungen indes die Tendenz, menschliche Wertvorstellungen umzudrehen. Unbewusst ist interessanter als bewußt, Zufall besser als menschliche Begabung. Affenschwanz und die Hundepfote besser als die Meisterhand. Das Unvermögen, das Mißlungene wird zum Stil erkoren. Abfall bildet ein beliebtes Material, Marmor und Silber dagegen nicht. Häßlichkeit ist gut, schön ist schlecht. Grauen und Grausamkeit stellen die Lieblingsthemen dar. Romantik und Poesie verachteter Kitsch. Worauf letztlich also all dies hinausläuft, ist die Verneinung des Menschen als intelligentes, Zivilisationen schaffendes Wesen. Soll das wirklich alles sein? Ist es das, was wir an das einundzwanzigste Jahrhundert weiterzureichen haben? Nur noch die Fragmente der alten bildenden Kunst? Oberflächliche Spielereien und den puren Unsinn?

Man kann jede menschliche Tätigkeit in Frage stellen. Man kann fragen: Welchen Sinn hat es, Figuren zu malen? Aber die Menschheit hat Jahrtausende lang fasziniert Figuren gemalt. Da muß doch wohl etwas daran sein an der Tätigkeit des Abbild ens. Das muß doch wohl zum Menschen und zum Menschsein dazugehören. Sollte man nicht auch einmal das Infragestellen in Frage stellen? Die Problemstellung lautet ja im Grunde genommen nicht mehr: Wie und welche bildende Kunst? Sondern: Ob überhaupt noch bildende Kunst? Sollte sich gerade in diesen Tagen die Menschenwelt so grundlegend verändert haben, daß die bildende Kunst verschwindet wie eine Art Kinderkrankheit? Sind wir etwa dabei, dergestalt erwachsen, emanzipiert zu werden? Ich aber kann grundlegende dramatische Veränderungen nicht erkennen. Die gleiche Liebe, der gleiche Haß, die gleiche Angst, dieselben Hoffnungen und Wünsche, der gleiche Tod; nichts von dem, was Menschenleben seit eh und je prägt und ausmacht, hat sich tatsächlich geändert. Ein bisschen Raumflug, ein bißchen Fernseher, ein bisschen Auto, alles eigentlich nur die Varianten auf das Alte, Dagewesene; alles oberflächlich, alles wahrscheinlich unwichtig. Ich bin sicher, daß es sich bei der bildenden Kunst um einen unamputierbaren Wesenszug unserer Natur handelt, dessen Verschwinden das Verschwinden des Menschen voraussetzt oder nach sich zieht. Was wir derzeit erleben, ist kein Wachsen oder Absterben der bildenden Kunst, sondern eine künstlich hinausgezogene Krise. Genauso, wie man in vielen anderen Lebensbereichen bereits beginnt, Hoffnungen und Ansprüche zurückzuschrauben, genauso wird man auch im Bereich der bildenden Kunst bald leiser treten müssen. Man wird schön brav wieder die Natur abzeichnen und studieren. Man wird mit spitzem Pinsel und Ölfarbe und Begabung die Lücke zwischen Wirklichkeit und Phantasie füllen. Man wird sich dabei nicht als Philosoph vorkommen, der mit messianischen Neuerungen die Welt  erlöst, sondern als ein Künstler, der seinen Beruf zwischen Edelhandwerk und Poesie ausübt.

Die Menschen werden von den Künstlern nicht erwarten, daß sie die Probleme der Tagespolitik lösen oder das Publikum mit Gags unterhalten, sondern man wird schöne Bilder und Skulpturen zur Erbauung verlangen, und man wird sie bekommen. Man wird die künstlerische Durchgestaltung der Bauwerke und Gebrauchsgegenstände fordern, und sie bekommen. Manche Errungenschaften der modernen Kunst werden bei sicher weithin zum Zuge kommen, wohl eingebettet in die alte bildende Kunst. Die meisten sonstigen vordergründig modernistischen Versuche aber werden verschwinden wie die Erscheinung einer Choleraepidemie.