Das Phantastische Weltmodell

Das Phantastische Universum lässt sich am besten durch ein dynamisches Schalenmodell beschreiben. Der innere Kern ist wie bei der Erde heiß, flüssig und ständigen Veränderungen unterworfen. Michael Ende hat dieser Region den Namen Phantásien gegeben. Sie wird aus der kollektiven Innenwelt aller Menschen ständig neu gebildet und sorgt dafür, dass sich das Phantastische Universum ständig ausdehnt. Ähnlich einer Zwiebel besteht dieses aus mehreren Schichten, die den Kern umschließen. Je weiter innen diese Schalen liegen, desto mehr unterscheiden sie sich von unserer Außenwelt. In der Zentralregion liegen Tolkiens Mittelerde, Lewis’ Narnia, Isaus Quassinja, Neschan oder Mirad – alles eigenständige Welten, teils mit eigenen Naturgesetzen. Auf dem weiteren Weg nach außen durchqueren wir Reiche wie Liliput oder Brobdingnag, die uns Jonathan Swift in Gullivers Reisen vorgestellt hat – sie gleichen unentdeckten Gegenden der Erde, in welchen wir Liliputaner, Riesen und manch anderes Wundersames entdecken können. Schon weit vom Kern entfernt liegen die utopischen Welten, etwa die in Orwells Roman 1984 beschriebene, in der »Big Brother« über alles und jeden wacht. In den äußeren Randbezirken will uns die Unterscheidung von unserer realen Welt kaum noch gelingen. Dort wohnen ebenso Michael Endes Protagonisten Bastian Balthasar Bux und Karl Konrad Koreander wie auch Isaus Romanhelden Jonathan Jabbok und David Camden. Nach Ansicht einiger Theoretiker gibt es im wirklichen Universum Wurmlöcher, durch die man im Handumdrehen weit entfernte Galaxien erreichen kann. Im Phantastischen Universum ist es nicht anders. So vermag Bastian durch ein Buch nach Phantasien zu gelangen oder Johathan durch seine Träume nach Neschan.

Die aus dem flüssigen Kern resultierende Dynamik des Phantastische Universums bewirkt ein allmähliches Wandern der inneren Schalen nach außen. Bisher konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob sie dadurch der realen Welt ähnlicher werden oder ob es die äußere Welt ist, die sich der fiktiven angleicht. Jedenfalls lässt sich anhand zahlreicher Beispiele nachweisen, dass Manches, was vor hundert oder gar nur fünfzig Jahren noch als Ausgeburt blühender Phantasie angesehen wurde, heute zur Realität geworden ist. Die Zukunftsvisionen von Jules Verne belegen dies ebenso wie die bereits erwähnte Utopie George Orwells von einem totalen Überwachungsstaat, der – getarnt als Verteidigung gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität – eingangs des 21. Jahrhunderts mehr und mehr Gestalt annimmt.

Die vorstehend beschriebene Theorie des Phantastischen Weltmodells verdeutlicht, wie wichtig Kreativität und Phantasie für die reale Welt ist. Solange der innere Kern des Phantastischen Universums heiß und flüssig ist, werden neue Schalen gebildet, die über mehr oder weniger lange Zeitraume in die reale Außenwelt übergehen und darin Neues hervorbringen. Wenn Kunst und Spiel, Phantasie und Träumereien jedoch im gesellschaftlichen Leben als unproduktiv angesehen werden, als belastender Kostenfaktor, der in der sozialen Bedürfnishierarchie immer weiter unten anzusiedeln ist, dann wird sich der innere Kern des Phantastischen Universums abkühlen und schließlich ganz erstarrten. Damit würde auch der Austausch zwischen dem Phantastischen und dem realen Universum und schließlich der Fortschritt in unserer äußeren Welt zum Erliegen kommen.

Ralf Isau, 22. April 2007

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