Dali - Surrealist und Neo-Manierist. Eine Einführung in G.R.Hocke

Dali – Surrealist und Neo-Manierist

Eine Einführung zu G.R.Hocke

Prof. Dr. Gustav René Hocke (1908-1985) ist vor allem durch sein Manierismus-Werk „Die Welt als Labyrinth“ – „Manier und Manie in der europäischen Kunst" und „Manierismus in der Literatur" bekannt geworden. Für Hocke ist der Manierismus keine zeitlich abgeschlossene Epoche, sondern eine Ausdrucksgebärde, die in allen Zeiten – besonders in solchen des Umbruchs – zu finden ist. Das Buch erschien 1957 als Rowohlt-Taschenbuch in mehreren Auflagen (auch in Frankreich, Italien, Spanien, Japan, Brasilien, Serbien, Rumänien, Polen) und 1987 als großer Prachtband. Da diese Bücher inzwischen schon lange vergriffen sind, kann man sie sowie weitere Informationen darüber unter www.gustav-rene-hocke.de finden.
Den Zugang zum Surrealismus fand Hocke recht früh, da er 1931 in Paris studierte und dort auch im Kreis der Surrealisten verkehrte, wobei ihm auch Dali über den Weg lief. In welch einer Situation er die Surrealisten dort antraf, beschreibt G.R.Hocke in seinen Lebenserinnerungen „Im Schatten des Leviathan“:

„So führte mein Weg mich bald immer näher zu den vorher schon geschätzten Surrealisten in Paris, die die Menschen wieder in einen übersinnlichen Mittelpunkt stellen, aber auch die gegenwärtige Gesellschaft erschüttern und verändern wollten. (…) Damals lebte auch Gert Heinz Theunissen, der Freund aus dem rheinischen Viersen, in Paris, um die französische Sprache, Literatur und Kunst – jenseits der Universität – zu studieren. Für einen Essay über Max Ernst hatte er gerade einen Preis bekommen. Ein Kontakt mit dem rheinischen Maler war leicht herzustellen. Er wohnte und wirkte in einer bescheidenen Atelier-Wohnung am Boulevard St. Germain. Mit den hellen blauen Augen, dem schmalen Kopf und der glatten rosigen Haut wirkte Max Ernst wie ein Ariel. Über einem seiner Arbeitstische hing ein riesiges, kostbar eingerahmtes weißes Leinwand-Stück mit nur einem blauen Klecks darauf, groß wie ein Luftballon. Darunter war zu lesen: La couleur de mes reves‘. Er machte uns auf die wichtigste surrealistische Literatur aufmerksam, vor allem auf die Zeitschrift ‚La Revolution Surrealiste‘. Dann versprach er uns eine baldige Aufnahme in den Kreis des sogenannten Papstes dieser „Bewegung", die damals ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte, in den ‚Salon‘ Andre Bretons.

Schon einige Tage später wurden wir als Gäste in dessen Haus auf dem Montmartre gebeten. Anwesend waren Salvador Dali, der damals langes Haar im Stile eines Musketiers des 17. Jahrhunderts trug, enge blaue Hosen, ein gelbes Hemd und rote Mokassins. Er schien verärgert.
Besonders herzlich empfing uns der bedeutendste Dichter dieser Gruppe, Paul Eluard. Er war korrekt und elegant angezogen wie ein Gentleman. Seine aristokratische Stilisierung bildete einen seltsamen Gegensatz zur Schärfe seiner auch politischen Pamphlete. Tristan Tzara, nervös wie ein Kabarett-Zauberer vor der Aufführung, drückte uns gleich die Hände. Rene Crevel, der kurz danach freiwillig aus dem Leben schied, sagte betont: ‚Endlich Deutsche!‘

Mit kurzen Worten stellte uns Andre Breton vor. Er machte aus uns schon Schriftsteller. Eine Ausbreitung des Surrealismus sei auch in Deutschland wünschenswert.
Dort kannten ihn damals – 1931 – nur Wenige. 1933 fiel der Vorhang brutal herab. Doch hatte die Sperre für jede Art von surrealistischer Literatur, die bald dekretiert wurde, auch einen besonderen, wieder einmal politischen Grund. Andre Breton und seine engsten Freunde hatten in einem Telegramm an Stalin den Surrealismus als Bundesgenossen der kommunistischen Weltrevolution bezeichnet. Diesen Text veröffentlichten sie in ihrer Zeitschrift. Andere, zu denen Salvador Dali und Hans Arp gehörten, waren damit nicht einverstanden. Sie wollten das Bewusstsein der Bourgeoisie erschüttern, das Unbewusste durch die sogenannte „Automatische Technik” und durch die Traumdarstellungen des Surrealismus erweitern, sich aber nicht einseitig in den Dienst einer Partei stellen.
Mit unserem Besuch hatten wir offenbar eine dementsprechende Diskussion unterbrochen. Sie wurde jedoch fortgesetzt. Breton sagte, ohne Hilfe der Kommunisten werde man die Pseudokultur des Kapitalismus' nie überwinden können. Andere machten Einwände. Wenn man schon den biologischen Materialismus der Nazis und den etatistischen Willenskult der Faschisten ablehne, sagte Rene Crevel, müsse man auch den ökonomischen Materialismus als einseitig bezeichnen. Immer wieder die gleichen Diskussionen! Für uns war es klar, dass Arp und Crevel Recht hatten, aber die politische Radikalisierung hatte manchen wie ein Fieber ergriffen. Es kam zu ernsten Streitigkeiten. Später traten die Besten aus... Die Spaltungen wurden verhängnisvoll. Andre Breton hat – als Emigrant in Amerika – seinen Irrtum zugegeben.
Ich war jedenfalls erleichtert, als das Gespräch sich im Hause von Breton bald den Plänen und Schöpfungen der Einzelnen zuwandte. Ich erfuhr von Ausstellungen, die damals kaum beachtet oder ausgepfiffen wurden. Ich suchte dann noch Einzelne dieser Gruppe auf, erhielt von ihnen die wichtigsten Neuerscheinungen. Eingeladen wurden wir auch zur Uraufführung des Filmes „L'Age d'Or” (Das Goldene Zeitalter) einer phantastischen Persiflage des vom Pharisäismus unterdrückten Erotik. Royalisten störten mit faulen Eiern. Die Polizei schritt ein. Die monarchistischen Studenten mussten den Raum verlassen. Den Film habe ich nie vergessen. Er gehört – wie die besten Bilder von Max Ernst und die schönsten Gedichte von Paul Eluard – zu den überzeitlichen Werten des Surrealismus, der erst nach 1945 in breiteren Kreisen Deutschlands bekannt werden konnte.

Zur gleichen Zeit beschäftigte sich Dali mit der Psychoanalyse und entdeckte durch den Kontakt mit dem Psychiater Jacques Lacan das Phänomen der Paranoia, einer psychischen Erkrankung, bei dem der Patient eine veränderte Wahrnehmung der Realität erfährt. Dali hat den pathologischen Begriff der Paranoia ins Positive gewendet und daraus eine kritische „Paranoia” gemacht, das heißt, dass er ganz bewusst eine Verfremdung der Realität zu einer persönlichen Mythenbildung vornahm und sein Leben lang entsprechend einsetzte. Die Surrealisten, die diese Entdeckung zuerst sehr interessant fanden, sahen diese Art der Mythenbildung bei Dali mit der Zeit immer kritischer, zumal man diesen Begriff auch durch das Wort „Lüge” ersetzen kann, weil eben auch die Lüge von der Realität abweicht. 

Für die Surrealisten war aber die „kritische Paranoia” in der Hinsicht von Interesse, weil dieses Phänomen auch bei Religionen und in der Politik immer wieder auftaucht. Nicht als Erkrankung, sondern als Element in einem Sozialsystem. So bauen sich fast alle Religionen auf irrealen Systemen von phantastischen Mythologien auf: Götter formen den Menschen aus Erde, Asche oder Maismehl. Sie sprechen zeitweise zu den Menschen, denen sie dann manchmal helfen aber auch furchtbar quälen. Es sind Systeme, die in sich oft stimmig aber abgehoben von der Lebensrealität sind, sodass man entweder daran glauben oder nicht glauben kann.
Ebenso gibt es das paranoide System in der Politik, wo Könige in paradiesähnlichen Schlössern eine ganz andere Realität erlebten wie das Volk. Deren tatsächliche Situation oder Realität, für die sie eigentlich Sorge tragen mussten, kannten sie nicht. Bei totalitären Regierungen erlebt man wieder ein solches Phänomen der Paranoia: Indem die Presse zum Beispiel eine positive Realität des Landes darstellen, die ganz gegensätzlich zur tatsächlichen Lebensrealität steht.

Die Ereignisse des 1. Weltkrieges warfen neue Fragen auf, mit denen sich die Surrealisten beschäftigten. Was führt dazu, dass ein französischer Dichter wie Paul Eluard, dem deutschen Maler Max Ernst im Schützengraben gegenüber liegt und sie aufeinander schießen, obwohl sie sich vorher nie gesehen haben? Wieso schießt man auf jemanden, zu dem man eine tiefe Freundschaft verspürt? Sie kamen zu folgender Erkenntnis: Der Mensch lebt in Systemen, die nicht für die Menschen sind, sondern die sich eigentlich gegen sie richten. Deshalb forderten die Surrealisten, dass sich sowohl der Mensch, als auch die Welt verändern muss.
Im Falle von Dali, der die „kritische Paranoia” zuerst als Methode zur Verunsicherung der verkrusteten Gesellschaft einsetzen wollte, schlug diese Rebellion um: Der Einsatz der „kritischen Paranoia” diente ihm nur noch zur Realisierung seiner exzentrischen Ideen und zur Vermehrung seines Reichtums.

Das Geheimnis von Hieronymus Bosch ist, dass wir von seinem Leben und den Symbolen seiner Bilder so gut nichts wissen. Bei Dali ist gerade das Gegenteil der Fall. Dali erklärte sich und seine Bilder immer wieder, schrieb darüber Bücher und lies Filme drehen. Aber je mehr Dali erzählte und schrieb, umso geheimnisvoller wurde und wird er für uns. Es ist ein permanentes Feuerwerk von Gags und intelligenten Narreteien, eine Clownnummer nach der anderen – was ihm auch bewusst war, weil er immer auch danach sein Publikum aufforderte, zu klatschen. Wer fragt einen Clown nach der Wahrheit und nach Tatsachen? Dali sagte einmal: „Nur Dumme sagen die Wahrheit und ich bin intelligent!”
Wer dies genauer beobachtet, wird feststellen, dass dies keine Erklärungen oder wahre Offenbarungen sind, sondern Dali sich damit einen Schutzwall aufbaut, hinter dem er sich versteckt. Der Mensch Dali wird dadurch nirgends sichtbar. Dali ist ständig dabei, sich sowohl hinter der Maske des Genies, aber auch der des Narren zu verstecken. Deshalb gilt Dali als manieristischer Künstler, dessen Werk vom klassischen Manierismus (1550-1650) beträchtlich beeinflusst wurde. Man kann auch sagen, Dali hat den klassischen Manierismus für seine Zwecke ausgeschlachtet.

 
Gustav René Hocke spricht hierbei von:
Lichtung = Klassik
Verbergen = Manierismus

 
In „Die »paranoische« Ästhetik und ihre Folgen“ schreibt er :

„Der Surrealismus um 1950* entwirft ein ganzes System »paranoischer« Ästhetik*. Im forcierten, bewusst herbeigeführten Irre-Sein, im künstlichen »Delirium« (ohne Rauschgifte), sollen sich die verborgensten Bilder des Unterbewusstseins aufschließen, wie neue »Blumen« der »Paranoia«. Diese »Paranoia«, so schreibt Salvador Dali in „La Femme Invisible”, bedient sich der äußeren Welt, um die »Idee« zur Geltung zu bringen, von welcher man besessen ist.

Die Realität der Außenwelt dient als Illustration und Beweis, sie wird in den Dienst der Realität unseres Geistes gestellt. Andre Breton spricht von »delirierenden Ideen«, womit »delirierende« Anschauungsbilder gemeint sind. Auch die Paranoia-Ästhetik ist nichts anderes als ein wieder verwandeltes Auferstehen der Idea-Lehre Zuccaris. Die »Idee« wurde zunächst zum »Bild« in der »Imaginazione fantastica«, jetzt wird sie zum Bild in der »Imagination delirante«. Die Imagination wird nur noch zu einem Sammelbecken von »delirierenden« Bildern aus dem Unterbewusstsein, und diese nimmt der Künstler möglichst passiv, »schlafend«, »automatisch« auf, um sie dann nur zu reproduzieren. Im Pflanzenzustand des Schlafs und der Wachträume blühen also die Blumen der Paranoia. Breton empfiehlt — wie Tesauro —, nach Möglichkeit immer zwei Bilder miteinander zu verbinden, die »möglichst weit voneinander entfernt sind«. Rene Crevel schreibt ein Buch „Etes-vous Fous?”, um in Alltagserfahrungen die so »offenbarende« Kraft der Paranoia zu schildern.

Salvador Dali verfaßt einen Traktat über die Malerei mit dem bezeichnenden Titel: „50 Segretos Magicos para pintar”, in dem sich zahlreiche manieristische Elemente einer ungenannten Tradition wie in einer paranoischen Vision mischen: der Ikosaeder und die Animalucci Leonardos, die Maschinen Remellis und Kirchers, die anamorphotischen Experimente, das »Schweben«, die »Irregularität«, das »Weltei«, der Perspektivismus der Frührenaissance und des Frühbarocks, die »seltsamen« Mythen, die maßlose Prätention vor allem. In diesem Werk eines solchen »Pseudo«-Paranoikers von hoher Intelligenz und Belesenheit wird der synkretistische Neo-Magismus zu einem manieristischen Pantheon der Geschichte. Alles wird möglich in diesen »50 Geheimnissen« Dalis, aber es stimmt überhaupt nichts mehr.

Dali »kann alles«, auch mit Geschick und meist mit großem technischen Talent, aber alles entartet nun zu einer manieristischen Akrobatie, zum letztlich sterilen Virtuosentum des pseudometaphysischen Schnellzeichners auf der Variete-Bühne.”

 

Ein weiteres Phänomen, das Hocke sicherlich heute in seinen Manierismus-Büchern behandelt hätte, ist das des „Bullshit”: 

Bullshit – ist opportunistischer Umgang mit der Wahrheit. Bullshit ist es egal, ob etwas wahr oder falsch ist. Hauptsache, es wirkt und verkauft sich. Wirkung und Quote sind wichtiger als Wahrheit und Wirklichkeit. Im Gegensatz zum Lügner, der absichtlich unwahre Behauptungen aufstellt und die Wahrheit daher auch kennen muss, interessiert sich der Bullshitter gar nicht für die Wahrheit. Da es ihm nur um leeres Getue geht, hat er für die Wahrheit keine Verwendung. Somit ist der Bullshit für die Wahrheit eine noch größere Gefahr als die Lüge.

Dali schrieb in „Le femme visible“, dass es bald möglich werde „die Verworrenheit zu systematisieren und die Welt der Realität völlig unglaubwürdig zu machen.“
Hierzu verwendete er die „paranoisch – kritische Methode“, eine systematische Fehlinterpretation der Wirklichkeit, wobei Dali die Wirklichkeit in seinem Sinne so hin bog (oder hin log), bis sie in sein phantastisch – subjektives Weltbild passte. Diese Methode wurde von ihm sowohl im künstlerischen Bereich, als auch im Leben angewandt, sodass Dalis Äußerungen, Schriften (wie z.B. seine Memoiren usw.) mehr unter dem Aspekt der Dichtung, wie aus der Sicht der Realität zu sehen sind. Dali pflegte einen „opportunistischen Umgang mit der Wahrheit“ und war demnach ein Vertreter von Bullshit. Wer sich der paranoisch-kritischen Methode bediente, hatte mit dem Nachteil zu kämpfen, dass Außenstehende ihn nicht mehr ernst nehmen, weil man davon ausgehen muss, dass alles, was er sagt und schreibt, erdichtet ist und nicht der Wahrheit entspricht. Man kann daraus geradezu die logische Konsequenz ziehen, dass Dali auch nicht mehr ernst genommen werden wollte. Tatsächlich tritt er immer mehr wie ein Hofnarr der Gesellschaft auf und hat mit einer eigenen unverständlichen Sprache „Blix dix baterix lix nix ...“ geradezu hinter der Maske des Kunst-Clowns Schutz suchte.

 

*Anmerk. d. Verf.: Mit dem Jahr 1950 irrt sich Hocke – oder der Setzer hat sich verschrieben. Der Surrealismus hatte sich nicht um 1950, sondern um das Jahr 1930 mit der »paranoischen“ Ästhetik« befasst, hauptsächlich in Verbindung mit Dali und dem Psychoanalytiker Jacque Lacan. Das hing unter anderem mit der Veröffneltichung von „La Femme Invisible“ von Dali, 1930, zusammen. 

Otfried H. Culmann