BILDER? Oelze & D'Orgeix in München (Nachtrag)

Chaos ist auch eine Form

Von Evelyn Pschak (10. April 2007)

Richard Oelze und Christian D’Orgeix, „Bilder und Arbeiten auf Papier“, Galerie Fred Jahn, München. Vom 9. März bis 27. April 2007

In den fantastischen Traumbildern des deutschen Surrealisten Richard Oelze (1900-1980) kündet ein Amalgam aus natürlichen und visionären Elementen von Lebensangst und Einsamkeit. Die zeitgenössische Kunstkritik stellt Oelze in eine weit zurückreichende Traditionslinie, die von Bosch über Manierismus und Romantik bis zu den Surrealisten reicht. Wieland Schmied, einer seiner wortgewaltigsten Interpreten, sprach in Bezug auf Oelzes Werk von der „Präzision des Vagen“.

Wesentliche Impulse erhielt der Künstler aus Magdeburg während seines Studiums bei Gropius, Klee, Moholy-Nagy und Itten am Weimarer Bauhaus. In seinen darauf folgenden Dresdner Jahren eignete Oelze sich unter Otto Dix und Richard Müller die Handschrift der Neuen Sachlichkeit an, um schließlich im Paris der 1930er Jahre – umringt von den französischen Surrealisten Max Ernst, André Breton, Salvador Dalì und Yves Tanguy – zu seiner Sprache zu finden. Auf dieser Grundlage aufbauend schuf Oelze nach dem zweiten Weltkrieg sein malerisches Hauptwerk zwischen abstraktem Surrealismus und imaginärer Figuration. Sein Schlüsselwerk Die Erwartung (1935/36) gilt als eine Inkunabel der Moderne und wurde vom ersten Direktor des Museums of Modern Art, Alfred H. Barr, angekauft. Auch das New Yorker Guggenheim hat drei Oelzes in seiner Sammlung.

In Deutschland ist die Rezeption des Surrealisten noch immer nicht da, wo sie sein könnte. Der Galerist Fred Jahn, der in seinen Münchner Räumen noch bis Ende April eine Doppelausstellung Richard Oelzes mit Christian d’Orgeix zeigt, möchte daran etwas ändern: „Wenn man Oelze an den Platz heben will, an den er wirklich gehört, nämlich in die Wahrnehmung als einen der ganz großen deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts, dann muss man ihn als Einzelgänger verstehen. Man darf nicht versuchen, ihn in irgendeine Richtung hineinzubasteln. Da ist irgendetwas Gigantisches. Bei Oelze habe ich, um die Bedeutung im Überblick darzustellen, auch Leihgaben akzeptiert. Beide Grafitzeichnungen (Baumlandschaft, 1935 und Hommage an Goya, 1954) sind unverkäuflich. Im Grunde genommen ist es also so, dass ich nur vier verkäufliche Arbeiten hatte, von denen drei schon verkauft sind.“

Eines dieser drei Bilder ist Der Jacobiner von 1951. Das Pastell auf Ingres-Papier konnte Jahn inzwischen an eine bedeutende griechische Sammlung abgeben. „Der Jacobiner ist etwas, hinter dem ich lange her war und ich bin sehr glücklich, dass es in dieser Ausstellung hängt. Das Bild ist der Inbegriff surrealistischer Vorgehensweise: Man hat einen scheinbaren Realismus, oberflächlich ist es eine sehr deutlich gezeichnete Figur und wenn man dann aber genauer schaut, ist alles daran schräg, eigenartig und geheimnisvoll. Außerdem ist es eines der seltenen Pastelle und er hat in seiner Pastelltechnik eine ganz andere Arbeitsweise als in seinen Bildern oder in den Bleistiftzeichnungen. Da entsteht fast ein Gewebe. Mich interessiert diese Stofflichkeit und mich interessiert, was auch eine Rarität ist, diese verhaltene Farbigkeit.“

Zeitgleich zu der Münchner Ausstellung läuft in der New Yorker Ubu Gallery noch bis zum 12. Mai eine Oelze-Schau, die vom Nachlassverwalter des Künstlers zusammengestellt wurde, dem Hamburger Galeristen Hans Brockstedt. Ganze 21 Ölbilder und 19 Zeichnungen sind dort zu sehen. Das mutet viel an, verglichen mit den sechs Werken in München. Doch ist das Opus Oelzes eben begrenzt: „Er hat insgesamt nur 168 Bilder gemalt. Dazu kommen ca. 175 Zeichnungen, das ist sein Lebenswerk“, erläutert Brockstedt.

Deswegen sind in den Münchener Räumen Jahns vor allem Zeichnungen, Aquarelle und Ölbilder von Christian D’Orgeix zu sehen. Der Franzose war mit Oelze, Wols und Konrad Klapheck befreundet und wie Oelze war auch er auf der documenta II (1959) und III (1964) in Kassel vertreten. „Ich zeige Oelze gerne mit Christian D’Orgeix zusammen“, betont Jahn, „wobei d’Orgeix in diesem Falle sogar der Auslöser war. Wir konnten zusammen mit Michael Hasenclever eine Sammlung mit frühen Arbeiten von d’Orgeix ankaufen, wie sie der Markt heutzutage nicht mehr hergibt. Die beiden Künstler waren befreundet. D’Orgeix ist sicherlich kein Meister von der Größe Oelzes, aber in seinem Werk, das er unter dem Einfluss Hans Bellmers begann und in dem gleichzeitig Wols eine große Rolle spielte, sieht man genau den Geist der 1950er Jahre. Bestimmte Ansichten des Surrealismus haben sich darin mit informellen Ideen verbunden: Diese Automatik des Arbeitens, das Motiv kommen zu lassen und diese informelle Inspiration – das ist ja auch bei bestimmten Surrealisten zu finden.“

Von Oelze selbst gibt es keine theoretischen Texte und kaum persönliche Aufzeichnungen. Er hat immer alles gleich zerrissen, selbst die Fotografien und Erinnerungsstücke aus seiner Kindheit. Dabei nutzte Oelze gerne Rechnungen, Postkarten oder Einladungen der Berliner Akademie der Künste, um Einfälle und Titelideen in seinen Wortskizzen festzuhalten. Doch nach dem Verwenden oder Aussortieren der Ideen wurden diese Zettel von Oelze vernichtet. Die wenigen gebliebenen Notate, die sich seit 1996 im Richard-Oelze-Archiv in der Kunsthalle Bremen befinden, verdanken wir der konservatorischen Akribie seiner langjährigen Lebensgefährtin, Ellida Schargo von Alten, die einige Notizen vor der zerstörenden Hand des Künstlers retten konnte. „Chaos ist auch eine Form“,  ist da beispielsweise zu lesen. Und wirklich geben sich die alptraumhaften Figuren Oelzes, die klaffenden Schlünde einer alles verschlingenden anthropomorphen Natur mit ihren Felsformationen aus Leibern, als eine Leid und Angst in sich hinein pressende Form zu erkennen.

Diese Angst war im Leben des Künstlers existenziell. Ernste finanzielle Probleme begleiteten ihn durch die ersten vier Jahrzehnte seines Schaffens. Nicht immer unverschuldet. Sein einsiedlerisches Wesen verdarb ihm manche Möglichkeit. So erzählt Hans Brockstedt, dass Oelze nicht einmal die Tür öffnete, als der Museumsdirektor der Niedersächsischen Landesgalerie, Dr. Harald Seiler, eines Vormittags nach Worpswede kam, um für sein Haus ein Bild zu erwerben. Hinter den Fenstern des kleinen Wohnateliers sah der Museumsleiter sehr wohl etwas sich bewegen. Sailer stellte sich vor und sprach die schemenhafte Figur auf sein Vorhaben an, die sogleich wie zur Salzsäule erstarrte. Jahre später traf Seiler Oelze bei einer Vernissage und sprach ihn auf die wunderliche Situation an, wozu der Maler gleich gestand: „Ja, ich schäme mich immer noch deswegen, aber ich kann vor 12 Uhr mittags noch nicht, da bin ich einfach nicht wach“. Es war Oelze unmöglich, jemanden in sein kleines Reich vorzulassen – obwohl er das Geld gut hätte gebrauchen können.

Oelze entfernte sich früh von der Außenwelt, eigentlich schon 1939 mit seinem Umzug in die isolierte Künstlerkolonie Worpswede, wo er blieb bis er 1962 auf das noch einsamere Rittergut Posteholz im Weserbergland zog. Seine letzten fünf Lebensjahre verließ er dieses Familienanwesen seiner Lebensgefährtin so gut wie gar nicht mehr. Selbst als er 1978 als Erster den frisch ausgelobten Max-Beckmann-Preis der Stadt Frankfurt bekam (damals dotiert mit 50.000,- Mark), konnte man Oelze nicht überreden nach Frankfurt zu fahren – fühlte er sich doch selbst zum Malen zu schwach. Am 27. Mai 1980 starb Richard Oelze in Posteholz.