130. Geburtstag von Alfred Kubin

Die magischen Welten des Alfred Kubin

Zum 130. Geburtstag des Zeichners, Illustrators und Erzählers am 10. April

Alfred Kubin (1877-1959) hat Kunstgeschichte geschrieben: als Nachkomme des Symbolismus, als Vorläufer expressionistischer und surrealistischer Tendenzen und als Mitglied des „Blauen Reiters“. Seine Bedeutung für die Kunst des „Phantastischen Realismus“ und noch jüngere Richtungen lässt sich heute noch gar nicht so recht überschauen. Aus innerem Zwang musste er bestimmte Bildideen fixieren. Groteske Ausgeburten seiner Phantasie, als Befreiung von intensiver Beschäftigung mit einzelnen andrängenden Vorstellungen. Das war Alfred Kubins „verkehrte Welt“: Das Groteske als Ausdruck der entfremdeten Welt. Verfremdung oder Entfremdung bedeutete für ihn einen plötzlichen Übergang vom Vertrauten zum Unvertrauten innerhalb eines einzelnen Werkes.

Freudlose Jugend

Eigentlich trägt die Biographie Kubins am ehesten zur Erklärung des spezifisch Grotesken besonders in seinem Frühwerk bei: Geboren am 10. April 1877 im böhmischen Leitmeritz (Litomerice), verbrachte Kubin seine frühe freudlose Kindheit in Salzburg und Zell am See. Als er 10 Jahre alt war, starb seine Mutter, zwei Jahre später seine Stiefmutter. Dazwischen ereignete sich die Verführung des Elfjährigen durch eine ältere Schwangere. Kubin beschreibt sich als ein wildes, triebhaftes, phantasiereiches, allem Zwang entfliehendes Kind. In der Schule scheiterte er, wurde erbarmungslos vom Vater gestraft, unternahm später am Grabe der Mutter einen Selbstmordversuch.

Als der Vater ihn 1898 zum Kunststudium nach München schickte, hinterließen die Gemälde alter Meister in der Alten Pinakothek einen „überwältigenden Gesamteindruck“ bei ihm. Auch schlug ihn die Schopenhauer-Welt „als Wille und Vorstellung“ in ihren Bann, löste das Kennenlernen der Graphiken Max Klingers wahre „Wunderräusche“ aus – die ihn immer wieder an den Rand einer Psychose trieben. Die Freude über die Anerkennung seiner Kunst und über sein „irdisches Glück“, das ihm seine Verlobung beschert hatte, zerschlug sich in hoffnungslosem Lebensüberdruss, als 1903 ganz plötzlich seine Braut starb. Durch die Verbindung mit der jungen Witwe Hedwig Gründler kam er dann in „gesicherte Verhältnisse“.

1906 erwarb er den Landsitz Zwickledt bei Wernstein am Inn in Oberösterreich, auf dem er seitdem als Einsiedler lebte und hier 1959 auch gestorben ist. Er tauschte die gesellige Atmosphäre in München mit der dörflichen Abgeschlossenheit ein, die nun auch immer weniger von Reisen unterbrochen wurde. Doch seine innere Festigung wurde immer wieder durch Schaffenskrisen, Krankheiten, hypochondrische Anwandlungen und nervöse Störungen, durch Todesfälle und schließlich die Kriegsereignisse abgelöst, die eine letzte ernsthafte Krise mitbewirkten.

„Schicksal ist alles!“

Als Folge dieser Erschütterungen und Zerstörungen sah Kubin phasenweise ausschließlich das Negative und Verzerrte des Lebens, wurde er zum Pessimisten und Zweifler, dem schließlich alles schicksalhaft, fremd, suspekt und zweideutig erscheinen musste. „Jeder findet, was ihm zukommt, seine Geburt, sein Glück, sein Unglück und sein Ende. Je eigenartiger, phantasievoller ein Mensch ist, desto ausgeprägter wird sich alles für ihn abspielen. Kurz: Schicksal ist alles! Daher bin ich Fatalist“. Das Wesen des Grotesken bei Kubin ist also Ausdruck einer pessimistischen Lebenshaltung, die sich vor allem aus seiner psychischen und physischen Angeschlagenheit herleitet.

Es gibt keine Unterschiede und Gegensätze zwischen den eigenen „freien“ Zeichnungen und den Illustrationen, die er zu E.A. Poe und Nerval, Jean Paul und Trakl, E.T.A. Hoffmann, Dostojewski, A.Strindberg und anderen geschaffen hat. Dabei wählte Kubin als Illustrator solche Autoren, die ihm in Wesensart und Thematik verwandt waren. Er hat immer nur sich selbst illustriert, schreibt der Kunsthistoriker Wilhelm Schmied – sich in die Texte so versenkt, bis er in ihnen lebte, bis er von ihnen erfüllt und besessen war, um sich dann durch die Zeichnung daraus zu befreien. Die ersten veröffentlichten Illustrationen zeichnete Kubin zu seinem eigenen, 1909 erschienenen Roman „Die andere Seite“. Während dieser Arbeit entwickelte er seinen unverkennbaren und dann stets beibehaltenen Illustrationsstil. Als thematische Ausnahmen entstanden dann auch Illustrationen zur Bibel.

Das Groteske, der Gegenpol einer Normalwelt, tritt in allen Zwischenstufen – dem Lächerlichen und Grauenvollen – und Nachbarphänomenen auf wie dem Phantastischen, Surrealistischen, Komischen und Unheimlichen. Beharrlich hat er, besonders im Frühwerk, immer dieselben Themen aufgegriffen: nämlich die von Angst, Ekel und Aggression verzerrte Darstellung von Sexualität, von anonymer, übermächtiger Gefahr und Bedrohung, von Tod und Sinnlosigkeit des Lebens. In monströsen Figurenbildungen, in der Zusammensetzung heterogener Teile zu frei erfundenen Symbolfiguren hat er sie gestaltet.

„Der große Kopf“ (1899) des Denker-Giganten, getragen von vielen kleinen Körpern, die, selbst kopflos, blind in verschiedene Richtungen drängen, ist zu einer zielgerichteten Aktion nicht fähig. Aber sicher ist hier auch eine Warnung an die Untertanen enthalten, sich nicht kopflos in die Abhängigkeit eines Übermächtigen zu begeben. Auf dem Bild „Das Ei“ (um 1900) wird die Leibesfrucht von einem Skelett ausgetragen, die Frau ist Lebensspenderin und Todesbringerin zugleich. Dem Strahlenkranz um die Gebärenden steht das Dunkle des Grabes mit dem Totenwächter gegenüber.

Die Zeichnung „Groteske“ (um 1900) zeigt zwei im Gegensatz männlich- weiblich typisierte Löwen in der Spannungssituation sexueller Annäherung: in aktiver und passiver Geschlechtsrolle, in Eroberung und Unterwerfung, in Kraft und Schwäche. Darüber wölbt sich ein Monstrum mit zwei überdimensionalen Brüsten, das urbildhaft Weibliche symbolisierend. Das Behütende hat sich in die Bedrohung aus dem „dunklen Reich der Mütter“ verwandelt.

Der Staat als Nonsens-Maschine

„Der Staat“ (1901) wird mit einer schwerfälligen, auf einer Wiese stecken gebliebenen Nonsens-Maschine gleichgesetzt, die Palast, Fabrik, Schiff und Dampfwalze in einem ist. Auf Balkonen und Terrassen richten Staatsmänner den Blick durch große Fernrohre in die noch helle Zukunft – als sichtbare Leistung hat der Staat nur eine dunkle Schmutzwolke hinterlassen. In der Zeichnung „Der Mensch“ (1902) führt der Lebensweg auf vorgegebenen Schienen – hier allerdings in einer geschwungenen Jugendstilkurve – abwärts ins Ungewisse. „Der Krieg“ (um 1903)personifiziert sich in der Riesengestalt eines martialischen Kriegers, der im Stechschritt über das Schlachtfeld marschiert. Sein rechter Elefantenfuß und sein linker, mit amphibienhaften Schwimmhäuten ausgestattet, ermöglichen ihm die Fortbewegung über Land und Wasser. Der Krieg ist außer Kontrolle geratenes Menschenwerk, der Kriegsgott ein irdischer Popanz.

Der „Stolz“ (1904/06) verkörpert sich in einer nackten Frau, deren Unterkörper die Gestalt eines Pfaus mit weit aufgeschlagenem Rad angenommen hat. Die Pose des Pfaus ist aus dem Kupferstich „Superbia“ von P. Bruegel d.Ä. übernommen worden. Doch Kubin hat Bruegels in den Spiegel blickende Frau und ihr Attribut, den Pfau, zu einer Figur verschmolzen. Anstatt sich selbst zu betrachten, lässt sich der Pfau bei Kubin betrachten. Der Stolz gleicht hier eher einer Prostituierten, die gebieterisch die Huldigung ihrer Verehrer entgegennimmt.

In der Zeichnung „Lebhafter Disput“ (1912) scheinen die Körper der Streitenden aus schlenkernden Würstchenketten und dickgedrehten Tauen, aus Kugelgelenken, Muskelpaketen und Sehen zu bestehen. Die Entmaterialisierung der Menschen fördert gerade deren sich steigernde lebensbedrohende Aggressivität zutage.

Düster erscheint auch das Werk „Verbotener Weg“ (um 1935): Ein Spaziergänger wird am Flussufer von hexenhaften Wesen vom Himmel herab angefallen, mit erschreckt abwehrender Armgebärde weicht er zurück, sein einer Fuß schwebt schon über dem Wasser, sein anderer wird auf einen spitzen Palisadenzaun treffen. Der Ausgang der Irritation bleibt offen. In „Der Eindringling“ (1930/33) und „Schlangenbann“ (um 1940) bricht Fremdes in die häusliche Atmosphäre ein: Auf dem einen Blatt zwängt sich eine Riesenfigur durch die Zimmertür und macht jeden Widerstand des Bewohners zunichte. Um eine solche groteske Darstellung der Lebensangst geht es auch in dem anderen Blatt, wo ein Mann wie hypnotisiert angesichts einer sich hereinwindenden Riesenschlange erstarrt ist.

Überleben der „braunen höllischen Fratze“

Nach dem Überleben der „braunen höllischen Fratze“ (Zitat Kubin) kehrte die Thematik des Zeitgeschichtlichen wieder umso intensiver zurück. Dem Ende des Dritten Reiches sind Blätter wie „Waterloo“ und „Der Besen“ (beide 1946) gewidmet. Der auskehrende russische Soldat trägt die Züge Leo N. Tolstois. „Der Tod kommt in die Welt“ (1947): Stellvertretend für die Menschheit trägt einer die Last des Todes wie Atlas die Weltkugel. Als lautstarkes „Memento mori“ wird der mächtige, ächzende Totenschädel empor gestemmt.

Nachdem sich Kubins Figuren nach 1915 langsam wieder verfestigt hatten, ihre Haltung stabilisierten und ihre natürlichen Proportionen zurückkehrten, um sich danach wieder nur partiell zu verformen, kehrte eine neue Art der Auflösung, Verflüchtigung und Verknäuelung von Figuren noch einmal im Altersstil der 1950er Jahre wieder. Dazu zählen Zeichnungen wie „Rübezahl“, „Minotaurus“, „Der König“ und „Das verfolgte Dienstmädchen“. In dem Blatt „Der barmherzige Wanderer“ (1953) sind die in sich nur noch angedeuteten Figuren sowohl miteinander wie mit der Landschaft verwachsen. Das Strichgewirr wird nicht mehr zu Formkomplexen gebündelt.

Atmosphärisch unerhört dichte Prosa

Kubins Prosa ist von gleichem Geiste wie die Zeichnungen, in der unerhörten Dichte des Atmosphärischen, der seelischen Stimmungen und Zustände. In zwölf Wochen hatte er den phantastischen Roman „Die andere Seite“ (1909), ein Kompendium seiner Bildvorstellungen, niedergeschrieben. Dieser Roman ist nicht nur geschichts- und damit zeitlos, sondern total „ortlos“, eine negative Utopie.

Der Ich-Erzähler, ein dreißigjähriger Zeichner und Illustrator aus München, in dem sich Kubin selbst darstellt, wird von einem Boten aufgesucht, der ihm berichtet, dass ein früherer Schulkollege, Claus Patera märchenhaft reich geworden sei und in Asien ein exklusives“ Traumreich“ gegründet habe, das, abgeschirmt von der Außenwelt und jedem Fortschritt abhold, auf ein möglichst „durchgeistigtes Leben“ angelegt sei.

In dieses Land für Auserwählte siedelt nun auch der Ich-Erzähler, der Zeichner, mit seiner Frau über. Die hier Lebenden sind Unglückliche, Sonderlinge, Außenseiter, Leute mit Ticks und Zwängen, Verbrecher, Süchtige, Lasterhafte, aber auch Künstler und Krüppel oder mit sonstigen Anomalien Behaftete. Über dem chaotischen, jeder Kausalität baren Leben in der Traumstadt Pele herrscht in riesenhafter Fiktion Patera, der den Tod der Frau des Zeichners als Opfer fordert. Aufruhr und Massensterben begleiten den immer apokalyptischer werdenden Untergang des Traumreiches, den der Autor inszeniert wie eine Wagner-Oper.

Was der Zeichner nun als „Formgebilde nach geheimen, mir bewusst gewordenen Rhythmen“ schafft und was er „Psychographik“ nennt, sind die eigenen stilistischen Wandlungen Kubins, die sich in den Illustrationen zum Roman vollzogen haben: Der für das nachfolgende zeichnerische Werk entscheidende Umschwung vom überwiegend Flächigen und Statischen zum rein Linearen und Dynamischen kündigt sich an. Blätter, die weniger nach dem surrealistischen Prinzip der unbewußten Niederschrift, als vielmehr nach dem Prinzip der bewussten Kombinatorik entstanden sind und die man als zeitdiagnostische Groteske bezeichnen kann.

Kubin hat in seiner Selbstbiographie die aus der Arbeit am Roman gewonnene Erfahrung so benannt, „dass nicht nur in den bizarren, erhabenen und komischen Augenblicken des Daseins höchste Werte liegen, sondern dass das Peinliche, Gleichgültige und Alltäglich-Nebensächliche dieselben Geheimnisse enthält“. Andere Deutungen haben im Untergang des Traumreiches ein prophetisches Menetekel, eine ernsthafte Endzeit-Ansage, das Ende der bürgerlichen Gesellschaft oder die Prophezeiung des Untergangs der Donaumonarchie gesehen.

Sollte man diesen Kubin nicht wieder einmal lesen oder sein zeichnerisches Werk betrachten? Wie sagte er zu seinem 60. Geburtstag 1937? „Alles ist gekommen, wie es kommen musste, und es ist gut so!“

Klaus Hammer, Literatur- und Kunstwissenschaftler, schreibt als freier Buchkritiker für dieses Literatur-Magazin. Er ist als Gast-Professor in Polen tätig.

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